Page 61 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die akademischen Grundlagen                 59

      gedanklich  ebenso  vertraut,  wie  für  die  ganz  wenigen  die  Politisierung  der
      Theologie  „von  unten“  stets  virulent  blieb.  Das  haben  die  Kontroversen  und
      Konflikte  zwischen  den  Stiftsparteiungen  bereits  gezeigt.  Elemente  einer
      „politischen“  oder  „neuen“  Theologie  erwuchsen  als  geistige  „Metamorphosen“
      aus den poetischen  und philosophischen  Versuchen  der Stipendiaten  und  trieben
      vielfältige Blüten. Doch alle poetischen Säkularisate oder philosophischen Systeme
      der  Stiftler  entsprangen  dem  theologischen  Boden,  einem  Wurzelgrund,  den
      Hölderlin  nie  im  Sinne  einer  echten  Säkularisierung  (etwa  als  postfigurale
      Gestaltung  nach  Albrecht  Schöne)  verließ,  sondern  lediglich  auf  höherer  Ebene
      (durch figurale Gestaltung)  wiederzugewinnen versuchte,  wie  das  späte Fragment
      Nr.  39  lakonisch  bemerkt:  „Von Gott  aus  gehet  mein  Werk.“  (vgl.  dazu  Schöne
      21968: 283-287)
          Allerdings muß man an dieser Stelle zwischen der Entwicklung der einzelnen
      Stiftler unterscheiden.  Hölderlin  entfremdete sich  zusehends von  Hegel  und  des­
      sen  Radikalisierung  der  rein  immanenten  Geschichtsphilosophie.  Die  berühmte
      Losung belegt  die  politische Politizität von  Hölderlins  (und Hegels  früher)  Vor­
      stellung eines  „Reich  Gottes“  auf Erden.  Darüber  hinaus vergegenwärtigt  sie  die
      Organisation des politischen Messianismus am Stift in Form von Geheimbündelei
      und  verdeckter  Lehr-  und  Schreibweise.  Der  „Dulder  Ulyß“  als  zukünftiger
      Vollender  des  „Reich  Gottes“  ist  hier  ebenso  angelegt  wie  das  Programm  der
      „Verwandlungskünste“   der  deutschen   „Proteusse“.   Die  Odysseus-  und
      Proteusparallelen  im  Hyperion  (KHA  II:  170,  18-33)  lassen  sich  so  als  zeitnahe
      literarische Gestaltung dieses Briefpostulats verstehen  (Jochen  Schmidt  datiert  die
      überarbeitete Fassung des Romans entsprechend, vgl. KHA II: 928-933).
          Im  nächsten  Unterkapitel  sollen  nicht  Hölderlins  politische,  sondern  seine
      philologischen   Metamorphosen   im   Mittelpunkt   stehen.   Auch   diese
      Verwandlungen  und  vor  allem  auch  „An-Verwandlungen“  von  Bildungsgut  aus
      Theologie, Philologie und biblischer Literatur spielen eine wichtige Rolle  für die
      Struktur von Hölderlins Messianismus.  Vor allem der komparatistische Vergleich
      von  antiken  und  orientalischen  Texten  bedingen  dabei  Hölderlins  Synthese  von
      Orientalismus und Klassizismus.

                        2. Hölderlins Magisterspecimen von 1790

      Die  altorientalische  und  biblische  Kunstform  des  Parallelismus  ist  einer  der
      Diamante,  an  dem  die  Stiftler  ihr  analytisches  und  poetisches  Instrumentarium
      schärfen mußten.  Auch  für Hölderlins Dichtung  hat  die parallelistische  Struktur
      eine  besondere  Bedeutung.  Der  Parallelismus,  den  Hölderlin  in  seinem
      Magisterspecimen   theoretisch  behandelt,   wirkt   auch  in  der  Wieder­
      holungsstruktur  und  in  den  symmetrischen  Bauprinzipien  seiner  Oden,  Elegien
      und  Epigramme  nach.  Auch  im  Hyperion  gibt  es  gelungene  Prosabeispiele  für
      diese Kunstfigur  (vgl.  KHA II:  78,  ZZ.  33-37).  Allerdings  modifiziert  Hölderlin
      die  parallelistische  Struktur  zu  einer  dialektischen  Entgegensetzung:  die
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