Page 62 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 62
60 I. Kapitel: Ursprünge
Zeilenpaare vieler überspitzter Epigramme, die Zweistrophigkeit der Frankfurter
Kurzoden, schließlich die antithetische („gegenrhythmische“, KHA II: 913, Z. 22)
Form von klassischen Hölderlingedichten wie ‘Hälfte des Lebens’ verdeutlichen
das. Die rhetorische Figur, die die dualistische oder parallelistische Struktur
dialektisch erweitert, ist der Chiasmus.
Ich möchte mich im folgenden in drei Schritten Hölderlin und seiner
Adaption von Parallelismus und Chiasmus nähern: Eine Analyse seiner
poetischen Anverwandlung dieser Strukturen bildet den Ausgangspunkt (2.1). Ein
philologischer Blick auf den Übergang vom Parallelismus zum Chiasmus ergänzt
das Bild (2.2). Die inhaltliche Interpretation von Hölderlins Specimen
(„Magisterarbeit“) skizziert schließlich den Übergang vom Dualismus zur
Dialektik in Hölderlins Denken (2.3). Ziel der Interpretation ist es, die Bedeutung
dieser Strukturen für die messianische Mythogenese zu erarbeiten. Für das mytho-
messianische Verständnis der Christushymnen wird der Übergang vom
Parallelismus zum Chiasmus eine besondere Rolle spielen (Kapitel IV. 1).
2.1 Der poetische Parallelism us
Dem distichischen Kurzgedicht ‘An Diotima’ kann man dieses Ineinander von
parallelistischer und chiastischer Bauform gut abschauen. Das (Liebes)Gedicht be
steht aus sechs Verszeilen, also drei Distichen zu zwei Zeilen. In den ersten vier
Zeilen ist die Führung von Motivik und Syntax parallel:
Schönes Leben! du lebst, wie die zarten Blüten im Winter,
In der gealterten Welt blühst du verschlossen, allein.
Liebend strebst du hinaus, dich zu sonnen am Lichte des Frühlings,
Zu erwärmen an ihr suchst du die Jugend der Welt. (VV. 1-4)
Das apostrophierte (lyrisch angesprochene) „schöne Leben“ wird in vier parallelen
Verszeilen metaphorisch entfaltet, wobei die VV. 2-4 vom „du lebst“ in V. 1 re
giert werden. Die parallelistischen Echos auf das erste Prädikat gehorchen der
Inversion: „blühst du“-/ „strebst du“ / „suchst du“. Der Vergleich der ersten Vers-
zeile („wie Blüten im Winter“) entspricht das „verschlossene“ „[BJlühen“ der
nächsten Zeile. Durch die Parallelisierung von „Winter“ und „gealterter Welt“
über die Metaphorik des Blühens („wie Blüten im Winter“ / „in der gealterten
Welt blühst du verschlossen“, VV. lf.) entsteht eine implizite Metapher: Die
„gealterte Welt“ ist „winterlich“, der „Winter“ beschreibt eine geschichtliche oder
biographische Phase, die einer Wende, einer Krise oder dem Tod gleicht und
daher „alt“ oder „gealtert“ ist. Hölderlin meint hier die Zeit des Abschieds von der
Geliebten. Ähnlich auch Hölderlins Metaphorisierung der nachantiken Epoche als
geschichtliche „Nacht“ in ‘Brot und Wein’ oder in ‘Vulkan’, VV. 9ff. (wo
„Nacht“ und „Frost“/„Winter“ sogar gleichgesetzt werden; vgl. auch ‘Der
Eisgang’/ ‘Der gefesselte Strom’).