Page 63 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von 1790            61


          Auch das  zweite Parallelenpaar impliziert  eine  Metapher.  Wie Diotima zum
       „Lichte  des  Frühlings“  strebt,  so  sucht  sie  die  „Jugend  der  Welt“.  Hier
      parallelisiert Hölderlin das Bilderfeld von Sonne, Licht und Wärme. Denn beiden,
      Frühling  und  Jugend,  sind  Licht  und Sonne  zugeordnet:  dem  Frühling
      gleichermaßen  wie  der  jugendlichen Phase  der  Welt,  also  der  Kindheit  der
      Menschheit, da „Liebe“  noch nicht auf Familie und Freundschaft beschränkt war,
      sondern  Prinzip  einer  kosmischen  und  gesellschaftlichen  Alleinheit.  Diese
      Vorstellung  verdichtet  den  mehr  oder  weniger  konventionellen  Topos  vom
      Goldenen  Zeitalter.  Hölderlin  will  hier  menschliche  und  geschichtliche  Ebenen
      verknüpfen: in liebloser Zeit können sich die Liebenden nur in der Rückschau auf
      lichtere Zeitalter erwärmen, im Blick zurück auf die „Jugend der Welt“  (V. 4), den
       „Frühling“  der Menschheit.  Aber hier interessiert  nicht  so sehr der Inhalt  als das
      Wechselspiel von parallelistischer und chiastischer Form.
          Innerhalb  der  Verse  1-4  (die  syntaktisch  und  metaphorisch  zwei  Parallelen­
      paaren entsprechen),  schürzt Hölderlin bereits die parallele Linienführung.  Diese
      Pointierung der  Gegensätze  möchte  ich  „chiastisch“  nenen,  weil  sie  exakt  der so
      genannten rhetorischen Figur nach dem Schema a-b-b-a entspricht. Die Kola

                    [...] du lebst,  wie die zarten Blüten  im  Winter, (V.  1)
                    In der gealterten Welt blühst du [...] (V. 2)
      sind chiastisch  gebaut, was durch die Hervorhebungen veranschaulichen.  Auf das
       „du lebst“  folgt  der Wie-Vergleich  („Blüten  im  Winter“).  Dem  chiastisch perfekt
      entgegengestellten  (sogar durch Stellungstausch von Personalpronomen und Verb
       noch verstärkten)  „blühst du“  geht eine  adverbiale Bestimmung des Ortes voraus
       als  metaphorische  Parallele  („in  der  gealterten  Welt“).  Die  Zeilen  3  und  4
       wiederholen   diese   chiastische   Figur   innerhalb   einer   übergeordneten
      Bilderparallele.  Sie  setzen  ein  mit  einem  Partizip  Präsens:  „Liebend  strebst  du
       hinaus,  dich zu sonnen  am Lichte des Frühlings /  Zu erwärmen  an  ihr suchst  du
       die Jugend  der  Welt“  (VV. 3f.).  Wieder  harmoniert  bzw.  kollidiert  die  parallele
       Bilderkette („sonnen“  /   „erwärmen“;  „Lichte des Frühlings“ /  „Jugend der Welt“)
       mit dem  Chiasmus  („strebst  du [...] zu sonnen  [...] /   Zu  erwärmen [...]  suchst  du
       [...]“).  In  diesem  Falle  verzichtet  Hölderlin  allerdings  auf  eine  Umstellung  von
       „suchst du“.  Als „du suchst“ würde es dem „strebst du“ von Vers 3  chiastisch ent­
       sprechen.  Dies  geschieht  aus  verstechnischen  und  rhythmischen  Gründen:  der
       Pentameter  benötigt  das  betonte  „suchst“  als  Zentrum.  Die  formalen  und  rhyth­
       mischen Symmetrien des elegischen Distichons verleiten sogar dazu, die jeweils im
       gleichen  Versmaß  gehaltenen  Verse  über  ihre  unmittelbare  syntaktische  Nach­
       barschaft hinaus miteinander zu parallelisieren, z. B. Vers 1 und Vers 3:
                     Schönes Leben! du lebst, wie die zarten Blüten im Winter, /  (V.  1)
                     [...]
                     Liebend strebst du hinaus, dich zu sonnen am Lichte des Frühlings [...]
                     (V. 3)
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