Page 64 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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           Diese  künstliche  Parallelisierung,  die  so  im  Sprechfluß  nur  sehr  schwer  nach­
           zuvollziehen  ist,  weist  allerdings  erstaunliche  Symmetrien  auf:  So  erscheint  die
           Wendung  „Liebend  strebst  du“  fast  wie  ein  Echo  der  etymologischen  Figur  am
           Anfang des Gedichtes:  „Leben!  du lebst“. Die Alliteration von [1] und [b] und die
           Assonanz  „lebst“  / /   „strebst“  mögen  bei  der  Rezitation  durchaus  noch  im  laut­
           lichen  Kurzzeitgedächtnis  des  aufmerksamen  Hörers  wie  ein  Reim  anklingen.
           Und  wenn  nicht  als  Reim,  so  doch  zumindest  als  parallelisierende,  harmoni­
           sierende Resonanz:

                         Schönes Leben! du lebst [...] // Liebend strebst du hinaus [...]
           Aber  die  formale  Raffinesse  von  Hölderlins  Verskunst  soll  nicht  überanstrengt
           werden.  Es  bleibt  festzustellen:  parallele  und  chiastische  Baumuster  überlappen
           sich  auf eine  Weise,  die  sowohl  metaphorisch  als  auch  verstechnisch  interessant
           ist. Dem Parallelismus von Vers  1  und Vers 3  auf der Ebene der Satzführung und
           des Versmaßes  entspricht  auf  der  inhaltlichen  Ebene  ein  Gegensatz,  nämlich  die
           Antithese  von  „Winter“  (V.  l)  und  „Frühling“  (V. 3),  Jugend  (V. 4)  und  Alter
           (V. 2),  sowie  von  Wärme  und  Kälte,  Tag  und  Nacht  (W . 4-6).  Zwischen  dem
           letzten  Wort  von  V.  1  („Winter“)  und  dem  letzten  Wort  von  V. 3  („Frühling“)
           steht  das  dialektisch  vermittelnde  „allein“  der  Geliebten  Diotima,  die  wie  eine
           „Blüte im  Winter“  an  die vergangene  Zeit  der Unbefangenheit  und Naivität,  des
           Lichts  und  der  „Leichtigkeit“  des  Lebens  in  der  Goldenen  Zeit  gemahnt.  Erst
           durch  diese  Vermittlung der  Gegensätze:  „winterlich“  und  „frühlingshaft“  durch
           Diotima  und  ihre  „[A]llein[heit]“  wird  aus  parallelen  oder  dualistischen
           Gegensätzen eine chiastisch-dialektische Figur.
               Eine  letzte Gegenüberstellung soll  dies verdeutlichen.  Die  Verse  1-4  sind  in
           ihrer  äußeren  Linienführung  parallel  geführt,  nach  innen  aber  chiastisch  ge­
           schürzt.  Sie  kontrastieren  mit  dem  abschließenden  Distichon  (VV. 5f.),  das  zum
           ersten  Mal  von  der  unmittelbaren  Beschreibung  des  „schönen  Lebens“  abrückt
           und die Gegensätze ohne parallelistische Glättung aufklaffen läßt:
                         Deine Sonne , die schönere Zeit, ist untergegangen   5
                           Und in frostiger Nacht zanken Orkane  sich nun.
           Das gesamte elegische Distichon ließe sich also in folgendem Schema wiedergeben,
           das sich nur auf die Wiedergabe von parallelen und chiastischen Mikrostrukturen
           beschränkt.  Die  horizontalen  Linien  stellen  die  Parallelismen,  die  diagonalen  Li­
           nien die Chiasmen dar:
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