Page 65 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von 1790            63


           Versschema                         Versstruktur

                                             VV.  1-2: chiastisch verschränkte
                                             Parallelismen
                                             VV. 3-4: reine Parallelismen


                                             VV. 5-6: disharmonische Entgegen­

                                             setzung:  „Sonne“ vs. „Orkane“
       Zwar  handelt  es  sich  beim  dualistisch-parallelistischen  Bau  von  Elegie  und  Epi­
       gramm  um  antike  Formen  (Alternation  von  Hexameter  und  Pentameter;
       Anapher  etc.).  Doch  scheinen  parallelistische  und  chiastische  Strukturformel
       durchaus  von  ihrer  poetologischen  Tradition  abstrahierbar:  als  Formprinzipien

       und  poetisches  „Kalkül“  haben  sie  auch  Hölderlins  Denken  beeinflußt  — das
       spricht  eindeutig  aus  Anlage  und  Bedeutung  des  Gedichtbeispiels.  Rhetorische
       (und poetologische)  Figuren sind zu  „Denkfiguren“  geworden;  man kann es auch
       umgekehrt  fassen:  Das  spekulative,  dialektische  Denken  Hölderlins  hat  eine
       Affinität  zu  bestimmten  Formen  und  Verskonventionen,  seien  sie  nun  biblisch
       oder antik überliefert.
          Hölderlins  Vorliebe  für  Versformen,  die  dualistische  oder  dialektische  Ent­
       gegensetzung begünstigen, zeigt sich in seinen  (zweistrophigen)  Kurzoden  aus der
      Frankfurter  Zeit  und  in  den  Epigrammen.  Vor  der  Wende  zum  triadischen  Ge­
       dichtgrundriß  im  Geiste Pindars bemüht  sich Hölderlin  neben  der Odenform  in
       seinen großen klassischen Elegien vor allem um das elegische Distichon.
          Ein  weiteres  Indiz  für  die  Nähe  von  parallelistischer  Struktur  und  disti-
       chischer Versform ist  die  Anapher,  die  Hölderlin  nicht  nur  in  den  Epigrammen
       gerne  verwendet,  um  Gedanken  und  Bilder  parallel  zu  führen.  Die  Anapher  ist
       eine rhetorische Figur,  die dem Parallelismus verwandt ist.  Einzelne Wörter oder
      Wortgruppen  werden  dabei  am  Anfang  der  Verszeile  wiederholt.  In  der  Erwei­
      terung der  epigrammatischen  Strophe  ‘An  Diotima’  (später  nur  noch  ‘Diotima’
       betitelt),  kommt  diese  Verwandtschaft  zwischen  Anaphern  (Versanfänge  von
       VV. 4 /5   bzw.  7/8)  und  Parallelismen  (VV. 4//5  ;  7//8)  noch  stärker  zum  Vor­
       schein.  In  V.  8  wird die  anaphorische  Struktur  der  ganzen  Strophe  noch  einmal
       innerhalb der beiden Teilverse ( V.  8.  1 und 8. 2) wiederholt:
                      Bis  in der sterblichen Brust sich das entzweite vereint,
                     Bis  der Menschen alte Natur die ruhige große,   5
                      Aus der gärenden Zeit, mächtig und heiter sich hebt.
                    Kehr' in die dürftigen Herzen des Volks, lebendige Schönheit!
                      Kehr an den gastlichen Tisch, kehr  in die Tempel zurück!
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