Page 66 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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64 I. Kapitel: Ursprünge
In der epigrammatischen Strophe ‘Gebet für die Unheilbaren’ treibt Hölderlin das
Spiel mit Anapher und Parallelismus auf die Spitze. Das geschieht in polemischer
Absicht.60 Der Anapher als Wort Wiederholung am Versbeginn (VV. 1, 3; 2, 4;
5, 6) entspricht die Wiederholung von Wörtern oder Satzteilen am Zeilenende, die
„Epipher“. Anapher, Parallelismus und Epipher erzeugen ein lautliches und
syntaktisches Echo, das hier polemisch das Gebetsmühlenartige versinnlichen soll,
mit dem man auf die unbelehrbaren Philister (die „Unheilbaren“ eben) einreden
muß:
Eil, o zaudernde Zeit, sie ans Ungereimte zu führen,
Anders belehrest du sie nie wie verständig sie sind.
Eile, verderbe sie ganz, und führ’ ans furchtbare Nichts sie,
Anders glauben sie dir nie, wie verdorben sie sind.
Diese Toren bekehren sich nie, wenn ihnen nicht schwindelt, 5
Diese [Lücke] sich nie, wenn sie Verwesung nicht sehen.
Auch das parallelistische Lautspiel mit „wie“, „sie“ und „nie“ verstärkt die
parallelistische Versarchitektur auf akustische Weise: Das Echo verkörpert den
abstrakten Parallelismus im sinnlich erfahrbaren Raum.
Die Analyse einiger exemplarischer Strophen und Verse hat gezeigt: Die
parallelistische Denk- und Formstruktur ist für Hölderlin wesentlich. Dieser
Befund erfordert es geradezu, sich nun Hölderlins theoretischer Beschäftigung mit
dem Parallelismus als Kunstform in der biblischen und antiken Tradition zu
zuwenden. Die Modifikation der parallelistischen Verfahrungsweise in der Poesie
bildet nämlich die Grundlage seines geschichtsphilosophischen und messianischen
Denkens. Aus dem parallelistischen Denken des Dualismus treibt Hölderlin die
Dialektik hevor, und zwar im Sinne von Jacob Taubes als Zugleich von
„Monismus und Dualismus“ (Taubes 1991: 34).
In seinem Magisterspecimen von 1790 thematisiert Hölderlin diese doppelte
Tradition des parallelistischen Prinzips in griechischer und hebräischer Antike.
Das parallelisierende Vorgehen zielt auf vergleichende, synkritische oder ana
logische Betrachtung der alten Literaturen, gleich ob es sich um
Offenbarungstexte oder die Werke von Historiographen, Philosophen, Dichtern
handelt. Diese Reflexion auf den Parallelismus als poetische Kunstform und her-
meneutisches Verfahren ist für Hölderlins messianische Mythogenese und seinen
spezifischen Synkretismus bedeutsam.
60 Mit seinen Epigrammen griff Hölderlin scharf in publizistische Zwiste ein, die zwischen
Beiträgern von ästhetischen, literarischen und moralischen Zeitschriften Ende der 1790er
Jahre ausgetragen wurden. Hölderlin beweist darin einen ironischen und polemischen
Wortwitz, den er ansonsten sorgfältig aus seinen „großen“ Gedichten herausgehalten hat.