Page 67 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von  1790          65


                 2.2  Vom philologischen zum kosmologischen Parallelismus

       Zunächst ist der Parallelismus ein rhetorisches Mittel, um einen literarischen oder
       religiösen  Text  zu  überformen,  und  zwar  durch  simple  Wiederholung  oder
       parallele  Umschreibung  eines  Gedankens.  In  den  altorientalischen  Literaturen
       fungiert  der  Parallelismus  als  formales  oder  mnemotechnisches  Symmetrie-Ele­
       ment  (ähnlich  wie  später  der  Reim).  Die  Kunstform  hat  vom  Alten  ins  Neue
       Testament  gewirkt  (vgl. Paulusbriefe). Ein Fundus für klassische Parallelismen ist
       der  Psalter.  Ein  Psalm  Salomos  über  das  Reich  des  Friedefürsten  illustriert  die
       Schönheit  dieses  Stilgebildes.  Mit  diesem  Psalm  beginnt  übrigens  die
       Vorlesungsnachschrift  von  Schnurrers  Psalmenvorlesung  1788/89,  die  Schelling
       angefertigt  hat  (vgl.  Schelling-Nachlaß,  Notizheft  Nr.  17:  1  im  Archiv  der
       BBAW):

           Gott, gib dein Gericht dem König /  und deine Gerechtigkeit dem Königssohn,
           daß er dein Volk richte mit Gerechtigkeit /  und deine Elenden rette.
           Laß die Berge Frieden bringen für das Volk /  und die Hügel Gerechtigkeit.
           (Ps 72,  1-3)
       Luther  gibt  die  parallelistische  Struktur  des  Psalms  (die  zwei  parallelen  Im­
       perative,  die  drei  Fügungen  mit  der  Konjunktion  „und“)  rhythmisch  und
       klanglich  wieder.  Noch  deutlicher sind die Parallelismen  in  einem  weiteren  mes-
       sianischen Psalm Davids, der den Messias als „König“ feiert:


           Der  Herr  wird  das  Zepter  deiner  Macht  ausstrecken  aus  Zion.  /   [...]  Der  Herr  zu
           deiner  Rechten  wird zerschmettern  /   die  Könige  am  Tage  seines  Zorns.  / / E r   wird
           richten  unter  den  Heiden,  wird viele  erschlagen,  /   wird Häupter  zerschmettern  auf



           weitem  Gefilde.  / / E r   wird trinken  vom  Bach  auf dem  Wege,  /   darum  wird  er das

           Haupt emporheben.  (Ps 110, 2 und 5-7)
       Wenn  Schnurrer  seine  Studenten  über  den  Parallelismus  als  formalästhetische
       Konstante im biblischen und antiken Känon arbeiten ließ, so begünstigte er damit
       eine  komparatistische  Literaturbetrachtung.  Auch  Schellings  Notizhefte  aus  der
       Tübinger  Zeit  vollziehen  diese parallelisierende Methodik  nach.  Das  Verzeichnis
       seiner Kladden  zeigt  dabei nicht nur eine  alternierende Folge von  biblischen  und
       antiken  Vorlesungsthemen  (vgl.  Findbuch  zum  Schelling-Nachlaß  im  Archiv  der
       BBAW,  S.  3-5);  auch  der  komparatistischen  Zusammenschau  der  Psalmen  mit
       griechischer  Philosophie  widmet  Schelling  zwei  ganze  Notizhefte  (Nr.  17  und
       31).61  Vor allem das Heft Nr.  31  dokumentiert,  wie rasch Schnurrers exegetische



        61  Die  vollständigen  Titel  und  Beschreibungen  der  beiden  Kladden  im  Findbuch,  S.  3-5:
           „Aufzeichnungen  über  Psalmen,  zur  Philosophie  der  Griechen  [?]  -  1  Band  eigenhändig
           und  fremde  Schrift“  (Nr.  17;  1789);  „Aufzeichungen  über Psalmen,  analecta philosophica
           (eigene Arbeiten oder Nachschriften nach Prof. Schnurrer?) - 1 Band eigenhändig“ (Nr. 31;
           1792).  Das Notizheft Nr.  17 trägt auf dem Umschlag die Beschriftung „v|/almen“  und den
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