Page 68 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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6 6                      I. Kapitel: Ursprünge


           Komparatistik  von  der  rezeptiven auf  die  produktive Ebene  wirkte.  Denn  bei


           diesen „Aufzeichnungen über Psalmen [und] analecta philosophica“ könnte es sich
           bereits um selbständige Arbeiten Schellings handeln.
               Nach  Schnurrers  moderner  Lehrweise  sind  die  „heiligen“  Texte  der  Bibel,
           wie  z. B.  die  Salomonischen  „Sprüchwörter“,  nicht  mehr  primär  als  Offen­
           barungswort  aufzufassen  (vgl. Jacobs  1991:  28-45;  Schäfer  1991:  46-78).  Vielmehr
           ist  die  Heilige  Schrift  ein  Kompendium  menschheitlicher  „Urpoesie“  ganz  im
           Sinne  Herders.  Erst  mit  der  Parallelisierung  von  heiligen  und  profanen,  poeti­
           schen  und  prophetischen  Texten  auf  der  rezeptiven  Ebene  wird  Hölderlins
           „prophetische“  Poetik  (Brief  an  Wilmans  1803,  KHA  III: 470,  ZZ. 23f.)  im  pro­
           duktiven Sinne möglich:  die Poetisierung des Prophetischen in der theoretischen Be­

           trachtung  ermöglichte  die  Prophetisierung  der  Poesie in  der  poetischen  Praxis
           (Jacobs 1991: 32-28).
               Diese synthetische Wirkung der parallelisierenden Methodik verdeutlicht die
           stilistische  Gegenfigur  des  Parallelismus,  der  Chiasmus.  An  diesem  komple­
           mentären Begriffspaar möchte ich spekulativ zeigen,  wie sich  eine kosmologische
           Bedeutung  aus  dem  rhetorischen  und  philologischen  Begriff  des  Parallelismus
           schälen läßt. Der Parallelismus spiegelt  dabei das orientalische Bild vom Kosmos,
           wie  Herder  es  in  „Uber  die  ersten  Urkunden  des  Menschlichen  Geschlechts.
           Einige Anmerkungen“  (Erste Urkunde, 2. Abschnitt) nachzeichnete:
               Der Parallelismus ist da!  die  Feste62  des Himmels,  die  Feste  der Erde!  da ist das Maß
               der  Verhältnis  [sic]  gegen  einander.  [...]  Der  Parallelismus  ist  da!  Tiere  des  Wassers,
               Tiere  der  Erde!  [...]  die  tote  finstre  grobe  Materie  und  das  Licht  ist  gleichsam  die
               Schwelle und der Eingang der Tagewerke [...] (Herder  1993: 45)
           Während  der  Parallelismus  eine  dualistische  Welt  von  Licht  und  Finsternis  be­
           glaubigt, die geschieden bleibt in Geist  und Materie,  Erkenntnis und Sünde,  stellt
           der  Chiasmus  die  Gegensätze  einander  „harmonisch  entgegen“  (KHA  II: 527ff.)
           und bringt produktive Spannung in die Komplementarität dieser Gegensätze.  Die
           chiastische Stilfigur ist sozusagen die LTrchiffre der Dialektik. Herder beleuchtet in
           der ursprünglichen Fassung von Älteste Urkunde (1774-1776) die Hieroglyphen für
           die  Begriffe  von  „Schrift“,  „Sprache“  und  „Kunst“  (Erster  Band,  Zweiter  Teil:
           „Schlüssel zu den heiligen Wissenschaften der Aegypter“, vgl. Herder 1993: 303ff.)
           Dies  geschieht  im  Zusammenhang  mit  seinen  Spekulationen  über  die
           siebengliedrige  „Schöpfungshieroglyphe“  (vgl.  „Sieben  Heilige  Laute“,  Herder
           1993:  315-32).  Ausgerechnet  die  Gottheit  der  Vermittlung,  der  Sprache  und  der
           Kunst,  die  den  Menschen  die  „Buchstaben“  (ebd.  318)  schenkte,  chiffrierten  die


               Innentitel  „Notamina ex  praelect.  D.  Schnurren  in  PSalm.“,  die Jahreszahl  1789  und  die
               Unterschrift Schellings.
            62  ,feste (1. Mose  1, 6-8)  Das hebräische Wort  bezeichnet  etwas Festgestampftes, Festgehäm­
               mertes (Platte). Man dachte sich im Alten Orient den Himmel als eine riesige Kuppel oder
               Schale.  Darüber befand sich nach dieser Anschauung der Himmelsozean und über diesem
               die Wohnung Gottes (Ps  104,  1-3).“ (Bibel 1985, Anhang:  14)
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