Page 69 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von 1790           67


       Aegypter Herder zufolge mit einem chiastischen Symbol:  „Hermes, Theut, Thot,
       Thaaut“  (ebd. 318, Z.  16):

           Kurz!  die Mittelfigur, wo Alle wahr haben und sich vereinigen, was ist  sie anders,  als
           jene berühmte  Symbole, die  auf allen Aegyptischen Denkmälern nicht oft g[e]nug er­
           scheinen  kann,  und  das  allbekannte  Zeichen  des  Weltalls,  Weltgeistes,  der


           Schöpfungskraft, der  Fortpflanzung alles  Lebendigen,  all’  ihrer  ursprünglichen  Götter
           war,  von  der  all  jene  auch  vor kommende  Abweichungen  nur  Varianten  sind;  es  ist
           [sic] die Symbole:  ®  ©  X  ®  [...]. Sie ist also das Erste Urbild,  das  Buchstabenblatt
           des Gottes Theut [...] (ebd. 319, ZZ. 3-14)
       Ich  möchte  den  Spekulationen  über  die  Siebenzahl  der  Schöpfungshieroglyphe,
       die  Herder  hier  anschließt,  nicht  weiter  folgen  (vgl.  Gaier  1993:  257-259;  dazu
       auch das erste Kapitel von Menninghaus  1987).  Das esoterische Zitat  soll  nur do­
       kumentieren, wie im unmittelbaren Einzugsbereich von Hölderlins philologischer
       Orientrezeption  eine  Begeisterung  herrschte für  die  spekulative  Gegenfigur  zum
       Parallelismus: für den Chiasmus als Chiffre des „Hermetischen“, der dialektischen
       Vermittlung der kosmischen und  anthropologischen  Gegensätze,  der coincidentia

       oppositorum (vgl. zur „discordia concors“  Sattler 1981:1, 53).
           Die  Implikationen  von  Parallelismus  und  Chiasmus  für  das  Denken  im
       18. Jahrhundert lassen sich gut mit dem Herderzitat verknüpfen.  Ohne den paral-
       lelistisch strukturierten Dualismus,  die Scheidung des Kosmos  in  eine  Licht-  und
       Geistsphäre Gottes einerseits und die „Kerkerwelt“  des Körperlichen andererseits,
       sind  die  hebräisch-orientalischen  Grundlagen  des  Christentums  nicht  denkbar:
       Apokalyptik,  Gnosis  und Mystik  beziehen die  duale Struktur  ihrer Kosmogonie
       und  ihrer  „Anthropogenesie“  (d. h.  der  Geschichte  von  der  Schaffung  des  Men­
       schen, vgl. Herder 1993:  12, ZZ.  10f.), aus diesem Denken.
           Der orientalische Dualismus ist die Wiege des  abendländischen Denkens:  die
       christliche  Körperfeindlichkeit,  die Hypostasierungen  des Bösen  (z. B.  in  der  Sa­
       tansgestalt)  entspringen  dieser  dualistischen  Weitsicht.  Das Judentum  übernahm
       diese  dualistische  Kosmologie,  wie  sie  bei  Babyloniern,  Persern,  Assyrern  und
       Ägyptern vorherrschte.  Allerdings  durchzieht  dieser  orientalische  Dualismus  die
       jüdische  Weisheitslehre  des  Alten  Testaments  in  modifizierter  Weise.  Die Juden
       stellten  den  Dualismus  auf  eine  monistische  Grundlage,  das  Präexistenz-Axiom
       der göttlichen  Weisheit,  die vor allem Geschaffenen den kreativen Urgrund Got­
       tes bildete,  aus dem alles geworden  ist.  Ein Salomonischer Spruch  aus Hölderlins
       „Parallele“ gibt diesen Gedanken prägnant wieder (die Weisheit spricht von sich):
           „Der Herr hat mich gehabt  im Anfänge seiner Wege:  ehe er was machte, war ich da.
           Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang vor der Erde. Da die Tiefen noch nicht
           waren,  da  war  ich  schon  bereitet;  da  die  Brunnen  noch  nicht  mit  Wasser  quollen.“
           (Spr 8, 22; K H A  II:  1209 bzw. 464, 8ff.)
       Diese Vorstellung einer präexistenten  „Quelle“  nicht  nur des  „Wassers“,  sondern
       sogar  der  „Brunnen“  selbst  diente  Hölderlin  und  den  Frühromantikern  als  Ur­
       form ihrer Synthesespekulationen um Begriffe wie „Grund“, „Natur“,  „Seyn“ und
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