Page 70 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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68 I. Kapitel: Ursprünge
„Geist“ - das Problem einer „präreflexiven“ Seinsinstanz (Roth 1991: 146; vgl.
Grunert 1995). Uber das Johannesevangelium und die Weisheitsliteratur
vermittelten sich alttestamentliche Weisheits- und pneumatische Logoslehre dem
frühromantischen Synthesegeist. Wichtigstes Ferment dieser Vermittlung bildete
Spinozas doppelter Substanzbegriff, die Vorstellung einer „Gottnatur“ hinter und
in allem Geschaffenen: die natura naturata als natura naturans. Anders formuliert:
Hölderlin und die Frühromantiker nahmen Spinozas Substanzbegriff zum
Ausgangspunkt, um eine Art „Subjektobjekt“ dialektisch zu konstruieren (vgl.
Ogden 1989 in Kapitel II. 1).
Für Hölderlins Messiaskonzept und seinen Geniebegriff ist der orientalisch
hebräische Dualismus entscheidend. Als Körper-Geist-Parallelismus vollzieht er
die charakteristische Trennung - errichtet er die „Scheidewand“ oder „Feste“ zwi
schen Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Mensch und Gott, auf der das
mystisch inspirierte Synthesedenken im 18. Jahrhundert basiert. Die typischen
Geniedispositionen wie die „trunkene Nüchternheit“ (Lewy 1929; Schmidt
1982/83 und KHA II: 837f.) das „formalmaterielle“ Wesen von Hölderlins Poetik,
der „geistigsinnliche“ Doppelcharakter63 der frühromantischen Kunst entspringen
diesem Dualismus auf monistischer Grundlage.
Die Synthesespekulationen Hölderlins und seiner Zeitgenossen machen die
dualistische „Feste“ erst zur dialektisch durchlässigen „Membran“. Es ist diese
synthetisch-osmotische Mitte, um die sich viele Denkfiguren Hölderlins und der
Frühromantiker konzentrisch ansiedeln lassen. Dazu Herders Übersetzung aus
dem Buche Genesis:
Und Gott sprach: es sei eine Ausdehnung in der Mitte der Wasser / und sei zur Ab
teilung zwischen Wassern und Wassern / Gott machte also die Ausdehnung / und
teilte zwischen den Wassern unter der Ausdehnung / und den Wassern über der Aus
dehnung / Und es ward also. (Herder 1993: 55)
Auf diese Geburt der Dialektik aus dem Geiste von Apokalyptik und Gnosis hat
Jacob Taubes eindringlich hingewiesen.64
Aber wie kann das, was Taubes über Apokalyptik und Gnosis sagt, auf den
biblischen Schöpfungsbericht übertragen werden? Das macht erst die folgende
Überlegung plausibel: Die Genesis ist mit dem apokalyptischen Denken
wiederum insoweit verschränkt, als beide vom Angelpunkt des eschatologischen
63 Vgl. die Terminologie von Hölderlins poetologischem Aufsatzentwurf „Über die
Verfahrungsweise des poetischen Geistes“ (KHA II: 527ff.) und die Begrifflichkeit der
„harmonischen Entgegensetzung“ (ebd. 534f.): „harmonischer Wechsel“ (527),
„Widerstreit“ (528), „das Widersprechendste [...] vergleichen“ (532).
64 „Denn mit der Apokalyptik und Gnosis hebt jene neue Denkform an, die sich untergrün
dig, verdeckt von der aristotelischen und scholastischen Logik bis in die Gegenwart
erhalten hat und von Hegel und Marx aufgenommen und ausgeformt wurde. Die Dialektik
ist eben .dualistisch und monistisch zugleich1.“ (Taubes 1991: 35 - Hervorhebungen origi
nal)