Page 71 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von  1790           69


       Denkens auf die zwei Enden der linearen geschichtlichen Zeit schauen: Schöpfung
       und  Apokalypse  sind  geschichtsphilosophisch  verknüpft.  Sie  verweisen  auf  die
       beiden  möglichen  Richtungen  menschlichen  Fragens:  die  Frage  nach  dem
       Ursprung („Kosmogonie“,  „Anthropogenesie“)  und die Frage nach dem Eschaton
       („Teleologie“,  „Eschatologie“).  Am  Ende  des  kosmogonischen  wie  des
       teleologischen  Denkens  steht  das  prinzipielle  Problem  der  Singularität,  d. h.  des
       Moments radikaler Alterität,  da die physikalischen Gesetze als  nur bedingt  gültig
       oder  gar  außer  Kraft  gedacht  werden  müssen,  ein  Problem,  das  die  moderne
       Kosmologie bis heute beschäftigt (vgl. Taubes 1991:  12).
           Werkimmanent betrachtet,  strukturiert die chiastische Figur die Antinomien
       und  Allianzen  von  Bildern,  Mythen  und  Entitäten,  wie  sie  Hölderlins  Ästhetik
       der  harmonischen  Entgegensetzung  charakterisieren.  Hölderlin  gestaltet  diesen
       Chiasmus  auf allen  Ebenen:  kulturtheoretisch  in  den  chiastischen  Oppositionen
       von  Eigenem  und  Fremdem,  griechischem  „Feuer  vom  Himmel“  und
       abendländischer  „Junonischer  Nüchternheit“  im  ersten  Böhlendorff-Brief
       (KHA III: 460,  ZZ. 3  und  14f.);  philosophisch  in  der  Dialektik,  poetologisch  in
       seinem  Begriff  von  der  „harmonischen  Entgegensetzung“  („Verfahrungsweise“,
       „Wechsel  der  Töne“);  rhetorisch  in  der  chiastischen  Stilfigur  -  und  mythisch  in
       den  vielen  chiastisch  strukturierten  Paarungen  seines  fiktiven  Personals,  wie
       „Ikarus“  und Herakles  (‘Dem  Genius der Kühnheit’,  ‘An Herkules’),  Kastor und
       Pollux  (Hyperion;  ‘An  Eduard’/ ‘Die  Dioskuren’),  Harmodius  und  Aristogeiton
       (vgl. KHA II: 72, ZZ. 28-30) oder Thaies und Solon (vgl. KHA III: 330, Z. 27).
           Eine  andere  Gruppe  solcher  Figuren  im  Zeichen  und  Geiste  des  „Chi“  (X)
       sind  Orpheus  und  Chiron,  aber  auch Johannes,  Dionysos  und  Christus  selbst.
       Denn  stets  handelt  es  sich  um  dialektische  Schwellenfiguren,  die  die  Gegensätze
       von  Antike  und  Christentum,  Christentum  und  Heidentum,  Griechenland  und
       Hesperien verdichten.  Hölderlins Interesse für historische Personen,  die Erdteile,
       Erkenntnisse  oder  Epochen  verklammern,  ergänzt  dieses  Bild.  Empedokles,
       Paulus,  Kepler oder Kolumbus sind gleichsam chiastische Durchgangsfiguren von
       Epochen, Geisteshaltungen oder Bewußtseinsstadien.
           Auch  Hölderlins  späte  Dingsymbolik  spiegelt  diese  chiastisch-dialektische
       Grundstruktur:  das  drei-  bzw.  vierblättrige  „Kleeblatt“  aus  ‘Der  Einzige’  III
       (V.  164), das Bild der „Sanduhr“, das Alabanda prägt (KHA II:  150, Z.  17) oder die
       „Lilie“  aus ‘An  die Madonna’  (V.  19)  und ‘Der Abschied’ II  (V. 35f.).65  Hölderlin


        65  Jupiters „Waage“ aus ‘Natur und Kunst’ (V. 2), die man auch als chiastisches Bild verstehen
           könnte,  ist  dagegen  Symbol  für  den  antithetisch-parallelistischen  Gerechtigkeits-  und
           Schicksalsbegriff  der  Antike.  Bei  Hegel  steht  die  „Waage“  für  die  Rechtspositivität  der
           Ordnung  Kreons,  gegen  die  Antigone  verstößt  (Geistkapitel  der  Phänomenologie  des
           Geistes): „Der visionäre Eros wird verdrängt vom männlich konzipierten Symbol neutraler,

           weiblich personfizierter .Gerechtigkeit“ - in der Hand die Waage, die Symmetrie des abso­
           luten  Rechts,  die  blind  ist  für  asymmetrische  Akzente,  das  Häßliche  und  das  Schöne.“
           (Gößmann  1994: 25)  Hölderlin visiert in ‘Natur und Kunst’  aber bereits  die  messianische
           Überwindung  des  mythischen  oder  tragischen  Zustandes  der  Positivität  an.  In  ‘Chiron’
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