Page 72 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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70                       I. Kapitel: Ursprünge


           legt  Empedokles  einen  Chiasmus  in  den  Mund,  als  der  den  Agrigentinern  sein
           Vermächtnis verkündet.  Im Zwillingsmythos sieht Empedokles das Zugleich von
           ideeller Sphäre („Wort“,  „Ruhm“) und materiellem Bereich („Gut“,  „Tat“)  im Zei­
           chen des ,,Friedensgeist[es]“ {Empedokles I, V.  1516):
                         [...] dann reicht die Hände
                         Euch wieder, gebt das  Wort und teilt das Gut,
                         O dann ihr Lieben - teilet  Tat  und Ruhm,
                         Wie treue Dioskuren  [...] (ebd. VV.  1524-27)
           An dieser Stelle läßt  Hölderlin  den Naturphilosophen  das  Gesetz  der Dioskuren
           verkünden  als  allgemeines  Gesetz  des  Friedens,  der  Gerechtigkeit  und vor  allem:
           der Gleichheit.  Der  lange  Monolog der  Szene vor Pausanias  und dem Volke  der
           Agrigentiner  (4.  Auftritt  des  3.  Aktes  der  ersten  Fassung)  ist  das
           „naturrevolutionäre“  Manifest  des  Empedokles  (dazu  Mögel  1996:  165ff.).
           Gleichheit,  Gemeingeist,  Güterteilung  sind  die  Werte,  die  er  im  Zeichen  seiner
           Vorstellung vom  messianischen  Zustand  der  „reinen  Positivität“  postuliert,  einer
           Zeit,  da alle Positivität  überwunden scheint  (ebd.  VV.  1486-1539).  Hölderlin ver­
           wendet das mythische Zwillingsbild nicht umsonst an dieser markanten Stelle, wo
           Empedokles  seinen  naturphilosophisch  inspirierten  Messianismus  verkündet.
           Denn  in  der  politischen  Mythologie  der  Revolutions-  und  Nachrevolutionszeit
           vergegenwärtigte  das  Dioskurenbild  immer  wieder  gleichheitliche  und  freiheit­
           liche  Prinzipien,  wie  z. B.  die  Gewaltenteilung  (vgl.  Hunt  1989:  110-147).  Auch
           am  Eingang  zur  Hymne  ‘Wie  wenn  am  Feiertage...’  stärkt  Hölderlin  das  mes-
           sianische Erlösungsmoment mit einer chiastischen Bild- und Satzkonstruktion:
                         Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn
                         Ein Landmann geht, des Morgens, wenn
                         Aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen
                         Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner [...] (VV.  1-4)
           Der oxymorischen Verkehrung der Attribute („heiß“ ist die „Nacht“, die „Blitze“
           „kühlen“)  entspricht  die  Umkehrung  der  Verhältnisse  am  „Feiertag“  der
           messianischen  Erlösung:  aus dem  Tode des  Alten,  des Mythischen in der Gestalt
           Semeles,  geht  die  neue  messianische  Ära  hervor,  die  „heilige  Frucht  des
           Gewitters“,  der  „heilige  Bacchus“.  Aus  dem  verderblichen  Feuer  im  Auge  des
           prometheischen  Menschen  (V. 28)  wird  das  motivierende  Feuer  „in  Seelen  der
           Dichter“  (V. 31),  aus  dem  der  „Seelenfunken“  schlägt  als  sozialer und spiritueller
           Antrieb.  Der  tödliche  Blitz  des  Zeus  (VV. 3;  51),  der  die  Mutter  des  Dionysos
           vernichtet, wandelt sich zum befruchtenden „Strahl“ des Vaters, der den Halbgott
           (Bacchus) und das Halbgöttliche/Halbmenschliche, den „Gesang“  (V. 54), erzeugt.
           Übrigens  gelingt Hölderlin  hier ein  schöner  Sprung von  der  Qualität  des  Feuers


              wird  sie  erstmals  gestaltet.  Die  beiden  Gedichte  markieren  also  die  beiden  Seiten  dieser
              wichtigsten  „Bruchkante“ in Hölderlins  Werk:  ‘Natur und Kunst’  noch in  der tragischen
              Sphäre verharrend, ‘Chiron’ schon  im Aufbruch zu einer neuen, messianischen Ordnung.
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