Page 73 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von 1790 71
zu der des Wassers, denn „Strahl“ kann beides heißen: befruchtende Flüssigkeit
und versengende Flamme; die Qualitätsverschränkung von heiß und kalt, Feuer
und Wasser liegt auch dem Chiasmus der Eingangsverse zugrunde.
Andere Chiasmen ergänzen das Bild: Die Zeit der mythischen
„Knechtsgestalt“ (V. 35) ist vorbei, die präexistenten „Kräfte der Götter“ (V. 36) ,
die in Mythen und Heroen gleichsam unbewußt verhüllt waren, werden am Ende
der Tage „im Lied“ der Dichter (VV. 37; 59; 73) „offenbar“ (V. 33). Sie läuten
einen historischen Tagesanbruch ein; „traurige“ (V. 16) Blindheit schlägt um in
neues „Sehen“ (V. 1) und „Begeisterung“ (V. 26). Aus Schlaf (V. 14) wird
Erwachen und Erweckung („Jetzt aber tagts! [...]“, VV. 19ff.) - aus „Ahndung“
(VV. 16f.) Gewißheit. In den Zusammenhang der Feiertagshymne mit der
Tragödie stimmt neben der gemeinsamen Entstehungszeit (1799/1800) auch die
Empedokles-Anspielung am Ende des Gedichts, da das lyrische Ich seine frühere
prometheische Hybris mit dem Fall des „falschen Priesters“ vergleicht (VV. 71-
73). An dieser Stelle spricht Hölderlin auch von der zentralen Umkehr, die ihm
die messianische Zeitenwende bedeutet: Das „ich sei genaht“ (V. 70) des stark und
autark sich fühlenden titanischen Menschen wird konjunktivisch als vergangen
abgetan und schließlich abgelöst durch das gegenwärtige „wenn er nahet“ (V. 66)
des Gottes (vgl. Schmidt 1978: 168).
Dietrich E. Sattler hat auf die konstitutive Bedeutung der chiastischen Denk
figur für Hölderlins Dialektik aufmerksam und eine mögliche alchemistische
Quelle dafür ausfindig gemacht. Er reproduziert mit Verweis auf die FHA die
chiastischen Schemata, die Hölderlin auf dem Rand der Handschrift des Auf
satzentwurfs „Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes“ skizziert hat
(vgl. Sattler 1981: 219f.). In der KHA kann man Hölderlins geradezu kom
binatorisch strukturiertes chiastisches Denken an den gekreuzten Verweislinien
nachvollziehen, die Hölderlin im Aufsatzfragment „Wechsel der Töne“ zwischen
den tabellarisch aufgeführten Begriffen „naiv“, „heroisch“ und „idealisch“ gezogen
hat (KHA II: 524, ZZ. 22-24). Auch die polemischen Chiasmen des berühmten
Briefes an Ebel sind Reflex dieser Kunst- und Denkform („unvernünftige
Klugheit, unkluge Vernunft, geistlose Empfindung, empfindungsloser Geist“,
KHA III: 252, ZZ. 5-12).66
66 Jesusworte wie z. B. „So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein“
(Mt 19, 30; 20, 16; Mk 10, 31; Lk 1, 52f.; 13, 30) basieren auf einer ähnlich chiastischen
Struktur wie die polemischen Paradoxien der großen Propheten. Jesaja und Amos geißel
ten die „verkehrten“ Verhältnisse ihrer Zeit mit paradoxen Redefiguren: „Bringt eure
Schlachtopfer am dritten Tage, räuchert Sauerteig zum Dankopfer und ruft freiwillige Op
fer aus und verkündet sie; denn so habt ihr’s gern, ihr Israeliten, spricht Gott der HERR!“
(Amos 4, 4a-5) Jesus wendet diese negativen Verkehrungen ins Utopische, wenn er die
Umkehrung des Verkehrten verheißt. Diese positive Paradoxie gab es allerdings auch schon
bei den Propheten. So spricht z. B. Jesaja vom „Wolf“, der beim „Lamm“ lagern wird,
wenn das Reich des Messias gekommen ist (Js 11, 6-9).