Page 74 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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72 I. Kapitel: Ursprünge
Eines der gewichtigsten (und gewiß nur sehr spekulativ zu erschließenden)
Beispiele für Hölderlins kunstvollen Gebrauch des Chiasmus ist folgendes
Verspaar aus der 8. Strophe von ‘Brot und Wein’:
Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet,
Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins. (VV. 137f.)
Die beiden Wendungen „Brot [...] der Erde (Frucht)“ und „Freude des Weins“ an
Anfang und Ende des elegischen Distichons sind nicht ganz symmetrisch gebaut.
Das Bild vom „Brot“ der „Erde“ ist um das Prädikatsnomen „Frucht“ samt Hilfs
verb („ist“) erweitert (V. 137). Die Korrespondenz mit der „Freude des Weins“ ist
dennoch durch den Genitiv und die markante Stellung am Anfang der
Doppelzeile nicht von der Hand zu weisen (V. 138). Auch die auffällige Inversion
(„Brot ist der Erde Frucht“ statt „Brot ist die Frucht der Erde“) stärkt die
chiastische Form.67 In diesem Fall wird der Chiasmus der syntaktischen
Opposition von „Brot“ und „Wein“ zu einem mystifizierenden Spiel mit der
Christusinitiale „Chi“ (X): Der Satz spiegelt Weihe und Feier der eucharistischen
Christus-Symbole. Der Chiasmus macht hier auch formal ein „Kreuzzeichen“
über den geweihten Gaben, durch kreuzt diese poetische Nachahmung der
herkömmlichen Wandlungsformel aber, indem Christus der Rauschgott Dionysos
an die Seite gestellt wird. In diesem Distichon verdichten sich durchaus ernsthafte
poetische Imitation einer sakralen Geste und synkretistische Götterkreuzung in
einem großartigen Satzbild. Restitutive und auflösende Absicht fallen in eins.
2.3 Vom Dualismus zur Dialektik
Parallelismus und Chiasmus spiegeln die Grundstrukturen von Hölderlins Den
ken. Dabei entwickelt sich die chiastische aus der parallelistischen Denkweise in
analoger Weise, wie sich geistes- und religionsgeschichtlich die Dialektik aus dem -
monistisch verankerten - Dualismus emanzipiert hat.
Diesen Phasencharakter von Hölderlins Poetik und Geschichtsphilosophie
hat zuletzt Wilhelm G. Jacobs (1994) ausdifferenziert. Jacobs sieht in Hölderlins
Magisterarbeit das erste Zeugnis für den Wandel seines Geschichtsbildes von
einem zweigliedrigen (dualistischen) zu einem dreigliedrigen (dialektischen)
Denkmodell. „Geschichte“, so Jacobs, wird für Hölderlin zur
„Vernunftentwicklung“ (Jacobs 1994: 144ff.). In der Historie wächst die Vernunft
aus den Kinderschuhen der „Phantasie“ heraus und wird sich ihrer selbst bewußt.
Diese Vorstellung verrät die Rezeption der zeitgenössischen Geschichts
philosophie Herders, Kants, Schillers und Lessings.
67 Zur Bedeutung der Inversion (Hyperbaton) für Diktion und Rhetorik der „erhabenen“
Dichtung und die Erhebungstopik vgl. [Dionysius Longinus:] Libellus de sublimitate, 22.1
und Vöhler 1992/93: 163.