Page 75 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von 1790 73
Jacobs schreibt Hölderlins Magisterarbeit über den Parallelismus eine Schlüs
selstellung zu (vgl. Jacobs 1991; 1994). Hölderlin hat demnach in der „Parallele“
eine zeitgenössische theologische Kontroverse reflektiert, die vom
Fragmentistenstreit im Umfeld Lessings ihren Ausgang nahm. Erst die Ver
arbeitung dieser neuen Ansätze in Exegese, Philologie und Geschichtsphilosophie
führte vom antithetischen zum dialektischen Geschichtsverständnis. Der auf
klärerische Dualismus von Naturzustand versus Zustand der Entfremdung konnte
von einem dialektischen Modell des Dreischritts abgelöst werden. Dies aber nur
vor dem Hintergrund historischer Theologie (Reimarus), moderner Bibel
philologie (Eichhorn, Heyne, Schnurrer) und idealistischer Geschichtsphilosophie
(Kant, Herder, Schiller, Lessing).
Dieser Zusammenhang soll nun genauer untersucht werden. Während die
orthodoxe Theologie die Heilige Schrift, abgesehen von vorsichtigen
Reformversuchen,68 als Offenbarungswort las, schürte der aufklärerisch-positi
vistische Fortschritt der Philologie fundamentale Zweifel an der Wörtlichkeit und
historischen Faktentreue der biblischen Überlieferung. Ausdruck einer solchen
historisierenden Theologie waren die Fragmente eines Ungenannnten von
Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), die Lessing 1778 anonym herausgegeben
hatte.69 Der Hamburger „Fragmentist“ ging darin so weit, vor allem den Aposteln
mit ihren Berichten von den Worten und Werken Jesu Betrug an der christlichen
Nachwelt zu unterstellen, wodurch die gesamte Geschichte des frühen
Christentums auf „Heuchelei und Scheinheiligkeit“ hinauslaufe (Reimarus 1993
[1778]: 224, Z. 32, § 1):
Da nun der Apostel neues Lehrgebäude erdichtet ist, so haben sie es auch in einer Ab
sicht, die schon vorher in ihrem Gemüte und Willen war, und damit sie schon lange
schwanger gegangen, ersonnen. Nun ist der Apostel vorhergängige Absicht beständig
und bis an diese Erdichtung auf weltliche Hoheit und Vorteile gerichtet gewesen.
Folglich hat es alle moralische Gewißheit, daß die Apostel ihr neues Lehrgebäude aus
voriger Absicht auf weltliche Hoheit und Vorteile erdichtet haben. (Reimarus 1993
[1778]: 322, ZZ. 3-11, §53)
Hölderlins Exegeselehrer Schnurrer dagegen vermittelte zwischen den beiden Ex
tremen, die biblische Verkündigung entweder als heiliges Offenbarungswort oder
68 Innerhalb der orthodoxen Dogmatik waren die Trennlinien der Denkparteien genauso un
scharf, wie auf Oppositionsseite. Als Gottlob Christian Storr mit seiner neuen Dogmatik
Doctrinae Christianae pars tbeoretica e sacris litteris repetita (Stuttgart 1793) das Standard
werk auf diesem Gebiet, das Compendium des Sartorius von 1777, ablöste, reagierte er
bereits auf die lebhaften Einwürfe der historisch-kritischen und philologischen Bibelkritik
(vgl. Jacobs 1989: 106).
69 Die 7 „Fragmente“, die Lessing für die Veröffentlichung auswählte, sind eigentlich Teil ei
ner sehr umfänglichen Schrift, die erst 1972 [sic] gedruckt wurde: Hermann Samuel
Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (vgl. Reimarus
1972).