Page 76 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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74 I. Kapitel: Ursprünge
als faktenwidrige Verfälschungen der historischen Wahrheit zu interpretieren. Er
folgte der Auffassung des Theologen Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) und
des Altphilologen Christian Gottlob Heyne (1729-1812). In seiner
„Mythentheorie“ sah Heyne die Bibel als eine Art Anthologie der hebräischen
Poesie im Sinne Herders; Gott hat den Verfassern seiner biblischen Offen
barungen dieser Vorstellung zufolge kindliche Angleichungen eingegeben, um das
bildliche Gemüt der frühen Menschen nicht mit komplizierten Begriffen zu über
fordern. Die Zeit der Erzväter, Könige und Propheten war demnach eine
„Kindheit des Menschengeschlechts“ (Jacobs 1994: 147), in der die Rationalität nur
dumpf sich regte. Diffus, aber naturnah bannten dieser Theorie zufolge die Ver
fasser des Pentateuch, der Psalmist, aber auch die Propheten oder der
Salomonische Weise ihre Lebenswelt in eine ursprüngliche Bildlichkeit und
Sprache. Die Bibel ist demnach ein Bilderbuch der frühen Imagination der
Menschheit. Das erklärte, so die Vertreter dieser Theorie, den „mythischen“
Charakter und die augenfällige „Ahistorizität“ der Bibel (Jacobs 1994: 145f.).
Hölderlin schloß sich dieser Lehrmeinung an, wenn er in der „Parallele“ die
Ähnlichkeiten der „Sprüchwörter“ Salomos mit „Hesiods Werken und Tagen“
herausarbeitete (Seiten in Klammern nach KHA II): Gemeinsam sind Salomo und
Hesiod die plastische „Personifikation“ (476, 32) von Abstrakta (bei den Hebräern
die Weisheit, die Gerechtigkeit bei den Griechen); die natürliche „Phantasie“ als
erste „Seelenkraft“ (468, 17f.) aller „unkultivierten Völker“ (468, 17); der Hang
zur „Kürze“ des Ausdrucks (463, 27) und die Vorliebe für die streng paral-
lelistische Gedanken- und Metaphernführung (468, 21 - 469, 9). Diese Aspekte
charakterisiert Hölderlin als Hauptmerkmale einer naiven Phase der menschlichen
Vernunft; für Hebräer und Griechen gilt gleichermaßen:
Ihre Sittenlehre ist sinnlich, populär, unmethodisch. (469, 2 lf.)
Von einer deduktionistischen „Terminologie“, von „Spitzfündigkeiten“ und
„Distinktionen“ der „Systeme“, wie sie die Wolffsche Schule babylonisch auf
türmte (471, 13-15; 472, 7-21), sieht Hölderlin dieses frühe orientalische Zeitalter
noch weit entfernt. Die nationalistische Systemphilosophie verkörpert damit das
aufklärerische Zeitalter mit seinen „Parteien“(472, 6), seinem „Sektengeist“ (471,
35), den Hölderlin als Signum der Entfremdung deutet. Der Zerrissenheits-Topos
der Scheltrede Hyperions (KHA II: 168, ZZ. 17-24) oder des Briefes an Ebel
(KHA III: 252ff.) kündigt sich hier bereits an. Hölderlin wird dort von seinem
Zeitalter als einem der „Auflösung“ (KHA 168, ZZ. 3 Iff.), als einer Epoche der
„Widerspüche“ (KHA IIP 252, ZZ. Iff.) sprechen.
Während in der griechischen Archaik die menschliche „Phantasie“ oder
„Einbildungskraft“ vorherrschte, regiert die Sprache der Rationalität das
„systemphilosophisch“ gealterte Abendland. Aus dieser Antinomie von Epoche der
Phantasie und Epoche der Rationalität, von Ursprünglichkeit der Phantasie und
Entfremdung der Vernunft, leitet Jacobs für Hölderlin ein dreigliedriges Ge
schichtsbild ab (vgl. Jacobs 1994: 144-151). Dieser Übergang vollziehe sich dabei