Page 77 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von 1790 75
im Geiste von Lessings dreistufigem Verlaufsentwurf in der Erziehung des Men
schengeschlechts von 1780 (vgl. Jacobs 1994: 149). Diese These kann man mit dem
Übergang von parallelistischer zu chiastischer Weitsicht und Gestaltungsform um
schreiben.
Aus diesem Paradigmenwechsel vom Parallelismus zum Chiasmus des Den
kens ergeben sich für Hölderlin dabei Konsequenzen auf drei verschiedenen
Ebenen:
1. auf der geschichtsphilosophischen Ebene: Geschichte versteht sich als
„Vernunftentwicklung“ (Jacobs 1994: 144ff.). In ihrer gemeinsamen
orientalischen Herkunft sind altgriechische und hebräische Literatur
verwandt. Wie die klassische Antike in der einfachen „Sittenlehre“ von
Hesiods Bauernethik wurzelt, so gilt es für das christliche Abendland,
seine Ursprünge in der Naturhaftigkeit der alten Hebräer zu entdecken
und für eine dialektische Aufhebung der Entfremdung wieder
zugewinnen. Nicht klassizistische Nachahmung, sondern allein
dialektisch gesteigerte Revokation des Ursprünglichen kann Sache des
„modernen“, „philosophisch“ entfremdeten Menschen sein.
2. auf der poetologischen Ebene: Die „Historisierung“ oder „Mythisierung“
der Heiligen Schrift verschiebt die Texte des Alten Testaments von ihrem
Offenbarungscharakter auf ihren historischen Stellenwert, ihren
mythischen oder eben poetischen Sinn.70 Damit ist dem synkretistischen
70 Zur mythischen und historisierenden Exegese am Stift: Während die konventionelle Dog
matik den 2. Psalm auf den Messias bezog, deutete die moderne Exegese Schnurrers die
Stelle als Hinweis auf Salomo selbst. Vor allem Hölderlins Kommilitonen Carl Immanuel
Diez und Christian August Klett (1766-1851) folgten darin ihrem gemeinsamen Lehrer
Schnurrer (vgl. Jacobs 1989: 102-106; 1991: 37). Schellings Vorlesungsnachschrift kann man
den Ansatz Schnurrers in der Interpretation des 72. Psalms ganz unmittelbar entnehmen:
„Schnurrer [be]zieht den >|' [aim] auf den allergrößten König des davidischen Stamms, den
Messias.“ (Nr. 17: 1, ZZ. 5f.) Zum einen ist im Text des 2. Psalms vom „Gesalbten“, den
Gott als „König“ einsetzt, die Rede. (Ps 2, 6). An anderer Stelle aber nennt Gott den Mes
sias „seinen Sohn“ (Ps 2, 7). Reimarus hatte bereits auf den topischen Charakter solcher
Wendungen wie „mein Sohn“ oder „mein Geliebter“ hingewiesen (Reimarus 1993 [1778]:
246, 2-15, § 16). Er hatte gezeigt, daß viele Bilder des Alten Testaments (z. B. auch „Taube“,
„Gesalbter/Ol“ oder die „Bath-Kol“, Gottes allgegenwärtige, geheimnisvolle Stimme) alle
gorisch zu verstehen seien. Das heißt: Man kann sie nicht typologisch auf die christliche
Präfiguration lesen, sondern muß sie historisch und gleichsam „literarisch“ als eigene To-
pik deuten. „Sohn“ steht also nur allegorisch für „Auserwählter“, „besonderer einzelner“.
Eine Gottessohnschaft kann im jüdischen Originaltext nicht einmal figurativ gemeint ge
wesen sein. Eine historische Person füllte daher der modernen Auffassung Schnurrers und
anderer zufolge den Platzhalter der abstrakten Messiasvorstellung (z. B. die realen Könige
Salomo oder David). Dieses Umdenken historisierte die biblischen Typologien und Denk
figuren auf behutsame Weise. Die Historisierung der biblischen Geschehnisse und Gestalten