Page 78 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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76 I. Kapitel: Ursprünge
Denken der Boden bereitet. Denn auch die „Parallelisierung“ des puer
nascens aus Vergils 4. Ekloge mit dem „Friedefürsten“ Jesajas wird so erst
annehmbar und der Gedanke von Platon als eines „Schülers von Jeremias“
denkbar (Schäfer 1991: 60, Anmerkung Nr. 33; Schäfer 1992: 233-244).
Was bei Schnurrer, Herder und Oetinger auf der Ebene der Rezeption
vorbereitet wird, findet in Hölderlins „Universaltheologie“ und in seinem
Mythensynkretismus schließlich produktiven poetischen Ausdruck.71
3. auf der theologischen Ebene-, Die Vorliebe für die schlichte Ethik bei
Salomo und Hesiod als Signatur einer wiederentdeckten Originalität
verschmilzt mit einem neuen Christusbild, das sich durch Schnurrer und
seine Vermittlung der historisch-kritischen Bibel Wissenschaft
herauskristallisiert: Jesus ist nicht mehr die supranaturalistische Gestalt
einer erstarrten „positiven Offenbarung“, sondern erscheint als
„Herzenskündiger“ (Hölderlin in seiner „Predigt über Joh. 2, 7-9“) und
„Lehrer der Menschheit“ (ebd.). Hölderlin ahnt, daß der antiken und der
biblischen Kultur ein gemeinsames ethisches Substrat zugrunde liegen
muß (vgl. Burkert 1992: 34). Im Proömium seiner Werke und Tage spricht
Hesiod von der Gerechtigkeit des Zeus, der die Unzulänglichkeiten der
Welt ausgleicht: „Leicht ja schenkt er Gewicht, bedrückt aber leicht auch
den Starken, leicht mindert er auch den Glänzenden und erhöht den
Niedrigen, [...]“ (Erga, 5f.). Der Lobgesang der Jungfrau Maria auf den
Heiland Jesus Christus klingt wie ein Echo dieser Maxime: „[Der Herr]
stößt die Gewaltigen vom Thron / und erhebt die Niedrigen. Die
Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1,
52f.). Um dieses ethische Zentrum, kreisen Weisheitsliteratur, griechische
Bauernethik und christliche Verkündigung gleichermaßen: die Letzten
werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein (vgl. Mt 19, 30; 20, 16).
Die messianische Idee scheint sich an dieser Stelle zum Mythischen hin zu
öffnen; umgekehrt beweist bereits die Ethik der archaischen Zeit eine
überraschende Spiritualität, was ihre Bilder und Denkfiguren christlich
aufladbar macht.
Dieser Öffnung des Christlich-Messianischen zum Mythischen entsprach die zeit
genössische Vereinnahmung des Christusbildes für das kantische Denken. Was
entspricht der Mythisierung des Offenbarungstextes: was die Heilige Schrift überliefert, sind
Mythen, die historisch übersetzt werden müssen (vgl. Jacobs 1991: 37).
71 Schäfer setzt das universaltheologische „Gott alles in allem“ (Schäfer 1991: 74) gegen
Schmidts Synkretismusbegriff (vgl. Schmidt 1990: 106) für Hölderlins Synthese aus Mytho
logie und Theologie. Der Begriff „Universaltheologie“ umfaßt nicht nur eine Integration
von antiker Mythologie und Christentum, sondern auch die konfessionelle Versöhnung,
die Hölderlin mit seinen späten Gedichtentwürfen ‘Luther’ und ‘An die Madonna’ andeu
tet (zur „Universaltheologie“ vgl. Bröcker u. a. 1960; Rombach 1985: 43-75).