Page 79 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Hölderlins Magisterspecimen von  1790          77

       sich  als  Kern  einer universaltheologischen  Tendenz  aus  den  ältesten  heidnischen
       Zeugnissen der Menschheit extrapolieren ließ, mußte auch für eine philosophische
       Säkularisierung  taugen. Dieses „idealistische“ Christusbild sei näher erläutert.
           Ein Vertreter des kantischen Christusverständnisses war Christoph Friedrich
       Ammon  (1766-1850), Professor der Philosophie  und Theologie  in  Erlangen,  dem
       Hölderlin  auf seiner Reise  nach  Süddeutschland Ende  1793  begegnete.  Hölderlin
       gefiel  der  unkonventionelle  Predigtstil  Ammons  (KHA  III:  118,  ZZ. 29-33),  der
       sich  um  einen  Ausgleich  zwischen Vernunft  und Offenbarung bemühte,  obwohl
       er mit seinem Entwurf einer reinen biblischen  Theologie  (1792)  zunächst  noch  An­
       hänger  des  historisch-kritischen  Rationalismus  blieb  (vgl.  Friedrich  Beißner,
       StA VI/2:  644ff.  und Jochen  Schmidt,  KHA  I: 805f.).  Beißner  belegt  mit  einem
       Zitat aus einer Predigt  des Professors, wie der „Offenbarungsrationalist“  Ammon
       versuchte,  den  ethischen  Kern  der  Lehre  Jesu  mit  kantischer  Terminologie  zu
       paraphrasieren, sprich: das Vor-Kantische in Christus und umgekehrt das eminent
       Christliche  im  Denken  Kants  auszuloten  (vgl.  die  Hervorhebungen  in  der
       Anmerkung).72  Diese  „Kantianisierung“  Christi  korrespondierte  (wenn  auch  in
       zeitlich  entgegengesetzte  Richtung)  mit  der  Parallelisierung  von  Weisheitslehre
       und  biblischer  Ethik  in  Hölderlins  Magisterspecimen.  Antike  Philosophie  und
       christliche  Offenbarung  wurden  historisiert,  um  eine  ethische  Konstante  aus­
       zumachen,  die  als  neues  Zentrum  philosophischer  Spekulation  und  poetischer
       Inspiration dienen sollte.  Nun konnte der Dichter auch den „Rückweg“ antreten,
       die  großen  philosophischen  Vordenker  des  18.  Jahrhunderts  mythisieren  und
       gleichsam mosaisch stilisieren, wie Hölderlins berühmtes Diktum es unternimmt:
       „Kant  ist  der Moses  unserer  Nation,  der  sie  aus  der  ägyptischen  Erschlaffung  in
       die  freie  einsame  Wüste  seiner  Spekulation  führt,  und  der das  energische  Gesetz
       vom heiligen Berge bringt.“  (KHA III: 331, ZZ. 7-10).
           Jetzt  erst ist der Weg frei für die poetische Gestaltung einer utopisch-messia-
       nischen Ethik:  der Weg, der in die Bilderwelt des Mythos ebenso hineinführt wie
       zu den Propheten- und Patriarchen der Bibel  oder durch die Geisthypostasen der
       Natur- und Geschichtsphilosophie.




        72  Vgl.  Beißners  Referat  einer Predigt  Ammons  unter dem Titel  „Die  Erscheinung Jesu  auf
           Erden, ein Fest für die Menschheit nach Joh. I,  14-18. Am ersten Weihnachtsfeiertage.“  (In:
           Christliche Religionsvorträge über die wichtigsten  Gegenstände der Glaubens-  und Sittenlehre,

           in der akademischen Kirche zu Erlangen gehalten. 3 Bde. Erlangen  1794: 30-54). Im folgenden
           ist von  Christus die Rede  (die Klammern markieren die Zusätze Beißners):  „Er ist es,  der
           unserem  Geiste  die Freiheit,  unserem  Herzen  wahre  Würde  [...]  verlieh;  -  [der]  muthige
           Retter der Menschheit,  in dessen Person sich die  erhabensten Kräfte  und die  glüklichsten
           Verhältnisse vereinigen mußten, wenn er seinen großen Zwek erreichen sollte;  - durch die
           Stiftung  eines  ewigen  Friedens  zwischen  Gott  und  seinen  Brüdern  [Begründer  eines]
           Reiches der Tugend und der Freiheit [...] [Gründer eines] Gottesstaates [auf Erden, dessen
           verstreute  Bürger  durch  die  Liebe  verbunden  sind  und]  einen  ewigen  Frieden  und  den
           glüklichsten und gefühltesten Freudengenuß [haben].“ (zit. n. StA VI/2: 649f.)
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