Page 80 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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78 I. Kapitel: Ursprünge
Dieses veränderte Christusbild der Zeit hatte großen Einfluß auf Hölderlins
Messianismus und Konsequenzen für seine irdisch und real gedachte Erlösungs
hoffnung. Diesem Zusammenhang geht das übernächste Kapitel nach (1.4).
Zunächst möchte ich aber prüfen, inwieweit Hölderlin seine Christus- und Mes
siasvorstellung nicht nur geschichtsphilosophisch modifiziert, sondern auch
radikale Thesen und zeitgenössische Kontroversen um die historische Gestalt Jesu
und den Gehalt seiner Lehre aufnimmt (1.3).
1.3 Rezeption des Fragmentistenstreits
Wilhelm G. Jacobs (1991: 28-45) hat gezeigt, wie Schnurrer den Stiftlern durch
seinen Ansatz einen dritten Standpunkt innerhalb der polarisierten Bibel
kontroverse seiner Zeit ermöglichte. Der historisch-kritische Rationalismus, vom
englischen Deismus angeregt (Robert Lowth, 1710-1787), erreichte in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die Herausgeber und Ausleger der biblischen
Schriften. Eine Manifestation dieser Entwicklung war die Kontroverse um die
Wertheimer Bibelübersetzung des aufgeklärten Theologen Lorenz Schmidt von
1735. Der Theologe hatte eine sehr freie und rationalistische Übersetzung des Al
ten Testaments gewagt (vgl. dazu Schmidt 1990: 185ff.). Die aufgeklärte
Bibelkritik des 18. Jahrhunderts behielt die philosophischen Errungenschaften
von Wolff, Lessing und Kant fest im Sinn und wollte die Widersprüche und Un
gereimtheiten der Heiligen Schrift nicht länger gelten lassen; aus dieser Richtung
drohte eine „Verwerfung der Offenbarung“ (Jacobs 1991: 41). Auf der anderen
Seite führte eine pietistisch durchsetzte protestantische Orthodoxie einen publi
zistischen und philologischen Kampf gegen diese Tendenzen und unternahm eine
„Behauptung der Offenbarung“ auch gegen die Vernunft mit ganzen Salven von
Streitschriften (ebd. und Schmidt 1990: 187-189). Kampflustig sträubten sich die
orthodoxen Dogmatiker und wortfrommen Pietisten gegen die Erkenntnisse der
aufklärerischen Bibelkritik und versuchten die Vorstellung vom inspirierten
Schrift wort aufrecht zu erhalten. Auch die Reihen der älteren Tübinger Theo
logen regten sich in diesem Sturm: 1773 erschien in Tübingen die Schrift
Christliches Glaubens-Bekenntniß und überzeugender Beweis von dem göttlichen Ur
sprung und Ansehen der Bibel den neuesten Einwürfen entgegengesetzt [...] des
Pietisten Magnus Friedrich Roos, deren barocker Titel die polemischen Erschüt
terungen der zeitgenössischen Theologie anklingen läßt. Auch der Kanzler der
Tübinger Universität und Stiftsprobst Jeremias Friedrich R. Reuß (1700-1777)
hatte sich als ehemaliger Bengel-Schüler ein Jahr zuvor mit einer Schrift in den
Auseinandersetzungen für die pietistische Partei engagiert. Mit seiner
Vertheidigung der Offenbarung Johannis gegen den berühmten Halleschen Gottes
gelehrten Herrn Dfoktor] Semler (1772) zielte er polemisch in die unmittelbare
geistige Nähe Hölderlins (vgl. Schmidt 1990: 189). Denn Johann Salomo Semler
(1725-1791) war in Halle einer der wichtigsten Lehrer Schnurrers gewesen. Auch