Page 81 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Rezeption des Fragmentistenstreits 79
Hölderlins späterer Dogmatikprofessor, Gottlob Christian Storr, ergriff 1782 mit
einer apologetischen Schrift für die Pietisten Partei.
Die Debatte wurde zum Teil so hitzig (und auch durchaus politisch) geführt,
daß einzelne Aufklärer unter den Theologen wie z. B. Lorenz Schmidt (1702-
1749) oder Carl Friedrich Bahrdt (1741-1792) mit Libertinismus-Vorwürfen und
Suspendierung vom Lehrstuhl fertig werden mußten. Auf die kritische Prüfung
von Verfasserfragen (z. B. der Evangelien oder der Offenbarung des Johannes)
reagierten Pietismus und Schultheologie mit wahren pamphletistischen
Abwehrschlachten. Natürlich ließen es auch die „Aufklärer“ nicht an Provo
kationen fehlen. Reimarus hatte es gewagt, die gesamte Überlieferung von
Evangelien, Pastoralbriefen und Apostelgeschichte als „Priesterbetrug“ zu
disqualifizieren, ein dermaßen vernichtendes Verdikt, daß es erst posthum und
anonym 1778 von Lessing veröffentlicht wurde (ebd. 40).73
In der Person des Ephorus Schnurrer, dem Schüler Semlers und Kollegen
Storrs, laufen die Frontlinien dieser Konflikte zusammen. Schnurrer bot den Stift
lern die Vermittlungsmöglichkeit zwischen radikaler „Verwerfung“ und
dogmatischer „Behauptung“ der Offenbarung.
Auf der Grundlage von Heynes „Mythentheorie“, die der Altphilologe
Eichhorn auf die Bibel übertrug, bildete Schnurrer damit einen Ausgleich
zwischen den Fronten. Diese „moderne Exegese“ (ebd. 39) bedeutete aber nicht
nur eine Rettung der Offenbarung, sondern auch deren Relativierung. Denn die
Mythologien anderer Völker verkörperten demzufolge ebenfalls eine je eigene
Stufe der „Vernunftentwicklung“. Das Wort „Entwicklung“ säkularisiert dabei
den Begriff der „Offenbarung“: Offenbarung ist demnach bloß ein historischer
Enthüllungszustand der Vernunft, die sich allmählich ganz „auswickelt“ oder, mit
Hegel gesprochen: zu sich selber kommt, am Ende bei sich ist (ebd. 40). Dieser ge
schichtsphilosophischen Säkularisierung mußte am prinzipiell konservativen Tü
binger Stift natürlich etwas Ketzerisches anhaften. Deshalb, so die brillante These
von Jacobs, stellte Schnurrer das strahlende „Licht“ seiner fortschrittlichen
Philologie und Exegese „unter den Scheffel“ (unter die Knute?) der politischen
und disziplinarischen Opportunitäten des Tübinger Stiftes (ebd. 38).
Aber mit Blick auf die Genese von Hölderlins messianischem Denken ver
dient Jacobs Widerspruch: Daß der radikale historisch-kritische Blick auf die
7’ Hermann Samuel Reimarus hatte in seinem Fragment „Von dem Zwecke Jesu und seiner
Jünger“, das Lessing 1778 anonym als 7. Stück und Ergänzung einer Reihe von 6
Fragmente[n] eines Ungenannten in seinen Beiträgen Zur Geschichte und Litteratur. Aus den
Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolffenbüttel 1774 1777 veröffentlichte, den Grund
gelegt für seine philologisch-kritische („historische“) Bibeldeutung. Methodisch wollte er
dabei den wahren Kern der Verkündigung Jesu und der Evangelisten aus den vielen Über
lagerungen von Aposteln und Kirchenvätern freilegen: „Die Reden Jesu bei den vier
Evangelisten sind nicht allein bald durchzulaufen, sondern wir finden alsobald den ganzen
Inhalt und die ganze Absicht der Lehre Jesu in seinen eigenen Worten entdecket und zu
sammen gefasset.“ (Reimarus 1993 [1778]: 227, ZZ. 4-7).