Page 82 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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80                       I. Kapitel: Ursprünge


           Bibel, wie ihn ein Reimarus wagte, für die konservative Orthodoxie am Stift obso­
           let war, liegt auf der Hand. Aber war er es auch für die Stiftsstudenten, wie Jacobs
           behauptet  (ebd.  40)?  Oder  ist  nicht  vielmehr  denkbar,  daß  in  der  geistigen  La­
           boratmosphäre  des  Stifts  durchaus  auch  radikale  Bibelkritik,  wie  die  des
           Hamburger Fragmentisten,  nicht  nur bekannt war,  sondern -  als  radikale Provo­
           kation - gleichsam in der Luft lag? Zumal der Fragmentistenstreit unmittelbar mit
           dem  „in  Tübingen  gut  bekannten  Lessing“  (ebd.  41)  verknüpft  war?  Und  dies
           umso  mehr,  als  diese  Vorform  historischer  Theologie  ein  immenses Potential  an
           „politischer  Theologie“  und  diesseitiger  Messianität  in  der  ursprünglichen  Lehre
          Jesu freilegte? Oder kannten die Stiftler den Fragmentistenstreit nicht vielmehr so
           gut,  daß  sie dazu ihren  ganz eigenen, unkonventionellen  Standpunkt einnahmen,
           wobei politische Unzufriedenheit und Reformwille im historischen Rückblick auf
           ein  Gutes,  Ganzes  und  Ursprüngliches  des  Christentums,  nämlich  die  mes-
           sianische  Erlösungsidee,  an  Schwung  gewannen?  Und:  War  es  wirklich  nur  der
           „dürre Empirismus“ (Michael Franz) des Reimarus, der die jungen Philologen und
           Philosophen  abschreckte,  so  daß  sie letztlich  den  rationalistischen  Vermittlungs­
           versuchen ihrer Lehrer und Mentoren zustimmen mußten?
               Diese Fragen  gewinnen  an Brisanz,  bedenkt man  die Sehnsucht der wenigen
           oppositionellen Stiftler nach kompensatorischen Nischen für ihre politischen und
           philosophischen  Neuerungswünsche.  Sicherlich  kannten  die  Stiftler  die
           „Fragmente“  des  Reimarus  aus  eigener  Lektüre  oder  durch  Schnurrers  Ver­
           mittlung.  Darauf  läßt  zumindest  ein  Titel  unter  den  Notizheften  Schellings
           schließen, der im Zusammenhang mit der Reimarusdebatte stehen könnte.74
               Verläßt  man die Ebene der Rezeption und wendet sich der immanenten Ana­

           lyse von  Hölderlins  poetischer  und  brieflicher  TextProduktion zu,  so  kann  man
           mit  gutem  Gewissen  die  einseitige  pneumatische  und  geschichtsphilosophische
           Vereinnahmung  von  Hölderlins  Denken  anzweifeln.  Paulus  und  Hegel  reichen
           nicht  aus,  um  die  ungeheure  Wucht von  Hölderlins  messianischem Denken  hin­
           reichend zu erklären.  In den  „Vaterländischen Gesängen“  entwirft Hölderlin eine
           Eschatologie  des  Abendlandes,  in  der  apokalyptische  Katastrophe  und  transi­
           torischer  Übergang  dialektisch  vermittelt  sind.  Noch  Chirons  Vertröstung  des
           Knaben  Achill  im  Projekt  einer  „ästhetischen  Erziehung“  -  enthält  ein
           „athletisches“  Element:  die  Erziehung  in  der  Waffenkunst  tritt  neben  die
           Unterweisung in der Gesangeskunst.
               Hölderlin verwendet  durchweg messianische  Denkfiguren,  biblische Wörter
           und Topoi, die sich geschichtsphilosophisch  nicht  „wegsäkularisieren“ lassen. Mit
           ihnen rührt Hölderlin  an das Mark des politischen Messianismus,  an den jüdisch­
           apokalyptischen Kern des Christentums (z. B.  Apk  13),  der dem eschatologischen



            74  Das Notizheft Nr. 29 aus dem Jahre  1792 weist neben den „Aufzeichnungen über den Rö­
               merbrief“ auch Notizen über „Verschiedene Vorstellungsarten Pauli vom Zweck des Todes
               Jesu“ aus. Man denke an den Titel vom Fragment des Reimarus, das Epoche machte: „Vom
               Zwecke Jesu und seiner Jünger.“
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