Page 83 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Rezeption des Fragmentistenstreits 81
Wesen dieser Religion entspricht, und beruft sich damit auf ihre vielleicht eigent
liche, zumindest aber ursprüngliche Natur.
Zwar bekundet Hölderlin eindeutig seine Affinität zu Pneumatikern wie
Johannes oder Paulus (Predigtstelle über Joh 1, 9; Brief an Ebel von 1795). Doch
mit zunehmender Entwicklung seines messianischen Denkens distanziert er sich
nicht nur von der dogmatischen Theologie, sondern auch von der paulinischen
Zähmung des politischen Messianismus. In einer großartigen similitudo temporum
parallelisiert Hölderlin sein Zeitalter mit der apokalyptischen Epoche um Christi
Geburt:
Es mußte alles so kommen, wie es jetzt überhaupt, und in der Religion besonders ist,
und es war mit der Religion fast so wie jetzt, da Christus in der Welt auftrat. Aber ge
rade wie nach dem Winter der Frühling kömmt, so kam auch immer nach dem
Geistestode der Menschen neues Leben, und das Heilige bleibt immer heilig, wenn es
auch die Menschen nicht achten. (Brief an die Mutter vom Januar 1799; KH A IH: 337,
ZZ. 17-23)
In diesem Zitat überwiegt die transitorische Komponente des jahreszeitlichen Zy
klus als Metapher für den sanften historischen Übergang. Aber es schwingt auch
ein apokalyptisches Element mit. Denn zur Zeit Jesu war das Urchristentum noch
Teil der messianisch inspirierten, eschatologischen oder apokalyptischen Be
wegungen, wie z. B. jüdische Sekten, Essener, Nazaräer, Ebioniten und frühe
Christen sie darstellten. Dieses historische Wissen um die ursprüngliche Natur der
christlichen Lehre war Gegenstand der Bibelkritik des Reimarus. Das
18. Jahrhundert wußte um die apokalyptische Urnatur des Christentums, seine jü-
disch-zelotischen und damit eminent politischen Wurzeln. Daran läßt auch Jacob
Taubes keinen Zweifel:
Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird die Geschichte des Lebens Jesu er
forscht. Die Leben-Jesu-Forschung hat bereits selbst ihre Geschichte. In langen Wehen
hat sich die Anschauung durchgesetzt, daß auch das Leben Jesu und seine Geschichte
der Methode historischer Analyse unterworfen ist. Mit einem Fragment des Wolfen-
büttelschen Ungenannten, welches Lessing 1778 herausgegeben, setzt die' Forschung
ein. In dem knappen Fragment: Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger, wird zum ersten
Mal die Welt Jesu historisch erfaßt und seine Anschauung als eschatologisch bestimmt.
(Taubes 1991: 46f. - Hervorhebungen original)
Über Schnurrer und die theologische Kontroverse um eine historische oder dog
matische Bibelexegese kam Hölderlin mit den geistigen Ursprüngen der Leben-
Jesu-Forschung in Berührung. Zum ersten Mal wird in diesem Zusammenhang
Jesu Lehre und Denken in den jüdischen Kontext der apokalyptischen „Erregung“
(Taubes 1991: 48) seines Zeitalters gestellt, in dem Jesus und seine Jünger bloß
Welle in einer großen Strömung von eschatologischen Bewegungen gewesen sind.
Dadurch stieß Reimarus auf das zutiefst jüdische Wesen der Reich-Gottes-
Vorstellung, die nicht auf jenseitige Pneumatisierung und paulinische „Aufhebung
des Todes“ fixiert war, sondern dem diesseitigen „Sitten-Gesetz“