Page 84 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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82 I. Kapitel: Ursprünge
(Reimarus 1993 [1778]: 228, Z. 33), also der „Besserung“ (ebd. Z. 26) und
„Bekehrung“ (ebd. Z. 12) der Menschen verpflichtet blieb. Jesu Entwurf vom
Reich Gottes, so Reimarus, stand dem „levitischen Ceremoniengesetz“ (231,
ZZ. 36f.) näher als der „Catechismus-Bedeutung dieser Redens-Art“ [„vom Reich“,
R. C.] (234, Z. 38).
In Hölderlins Väter- und Lehrergeneration75 wurde so erstmals die These
diskutiert und rezipiert, daß die neutestamentliche Modifikation und spätere
dogmatische Fixierung von Jesu Lehre nur eine historische Schicht darstelle, die
sich erstarrend über das ursprüngliche Magma der jüdischen Apokalyptik und des
jüdischen Messianismus geschoben habe:
Die Leben-Jesu-Forschung hat einen vollen Kreis der Entwicklung durchlaufen und ist
zur zentralen These des Reimarus zurückgekehrt [...] daß Jesus nicht als Anfänger
eines Neuen, sondern als eine Erscheinung der apokalyptischen Welle in Israel zu be
trachten sei. [...] Der jüdische Messianismus ist nur ein Teil der apokalyptischen
Erregung, die allgemeiner die gesamte aramäisch-syrische Welt ergriffen hatte.
(Taubes 1991: 48; vgl. Schweitzer 61951: Hl)
Als übergreifendes historisches Phänomen vereint die messianische Eschatologie
dieser charakteristischen Umbruchszeit kosmisch transzendierende Merkmale mit
den diesseitig nationalen Elementen, die ihr der Prophet Daniel in seiner Prophe
zeiung vom „Menschensohn“ zugeführt hat:
Wenn Jesus predigt: das Reich Gottes ist herbei gekommen, so muß seine Aussage
vom Reich, wie schon Reimarus meint, .nach jüdischer Redensart' verstanden
werden. [...] Der Terminus Reich Gottes deckt eine Reihe von Assoziationen. Auf
nicht entwirrbare Weise mischen sich nationale Eschatologie, davidischer Mes
sianismus mit kosmisch-transzendenter Eschatologie eines wesentlich jenseitigen
gedachten Himmelsreiches. (Taubes 1991: 49)
Die christliche Messiaserwartung der späteren Urgemeinden und der paulinischen
Theologie wurde dagegen allmählich von ihren diesseitigen, urjüdischen Wesens
zügen entkernt und das Mark des messianischen Gedankens durch die
pneumatischen Transzendierungsversuche ausgezehrt: das Christentum
„verjenseitigte“ die jüdische Messiaserwartung. Diese Tendenz christlicher Verein
seitigung der pneumatisch-transzendenten Elemente kann gleichsam als
Entmischung der ursprünglichen Dialektik des judäochristlichen Messianismus
verstanden werden, die ein Wechselspiel von immanenten und transzendenten
Zügen darstellte.
Taubes nennt das die „Entwertung“ der jüdischen Eschatologie durch das
Christentum (Taubes 1991: 72). Sie ergab sich zwangsläufig seit dem Zeitpunkt, da
Jesus seine eigene Prophetie über die Zeit seiner Wiederkunft nicht erfüllte. Die
Naherwartung der frühen Christen münzten die Urgemeinden und später Paulus
Das gilt für Lessing, Eichhorn, Heyne, Herder und Schnurrer; Reimarus ist älter, Jahrgang
1694.