Page 85 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Rezeption des Fragmentistenstreits 83
in eine Fernerwartung um. Die Christianisierung der jüdischen Erwar
tungsgewißheit Daniels war damit vollzogen. Die Patristik entschärfte die
„allgemeine Eschatologie“ der jüdischen Vorstellung schließlich zur politisch
vollends entmachteten „individuellen Eschatologie“ (Taubes 1991: 77-82). Die in
dividuelle Eschatologie nahm mit der „Pädagogie“ (ebd.) als messianische
Kompensation vorlieb - mit Erziehung, Erkenntnisstreben, Askese und Büß
fertigkeit. Das Christentum trat den Weg nach innen an.
Das geistige Substrat der apokalyptisch-eschatologischen Bewegungen und
ihrer Literatur um die Zeit von Christi Geburt entsprach, wie schon gezeigt, einer
unauflösbaren Chemie aus immanenten und transzendenten Elementen. Das zeigt
die Prophezeiung Daniels (Taubes 1991: 49). Sie bringt den transzendenten
„Menschensohn“ mit dem geschichtsimmanenten Sproß aus dem Hause Davids
zusammen und verknüpft beide mit der geschichtlichen Transzendenz des Him
melreiches in der Abfolge der vier Reiche (Da 7). Dieses messianische Substrat
hatte in der syrisch-aramäischen Welt zu Beginn der Zeitrechnung zwar gleichsam
internationale Konjunktur; das ließ seinen jüdischen Wesenskern jedoch un
beeinträchtigt.
Der jüdische Messianismus Daniels, der in Gruppen wie Essenern und Chris
ten wieder auflebte, bildete das explosive Urgemisch aus immanentem und
transzendentem Denken, das die frühen Christen imminent auffassen mußten und
durch Askese, Buße und Gebet als ein Ereignis aktualisierten, das noch in ihre Le
benszeit fiel, also buchstäblich „nahe“ war. Das machte diese Bewegungen auch
politisch und sozial so brisant, wie die Verfolgungen beweisen, die den aramäisch
syrischen Sekten durch die Römer widerfuhren und die die chiliastischen
Bewegungen späterer Zeiten erleiden mußten. Folgerichtig stand Jesus, dem Er
kenntnisstand der modernen historischen Theologie gemäß, einem „Eiferer“ wie
dem zelotischen Täufer näher als Pneumatikern wie z. B. Johannes oder Paulus.76
Diese Naherwartung findet sich auch bei Hölderlin. Seine Affinität zu Apo-
kalyptik und Eschatologie verrät das enorme Gewicht, das Hölderlin dem Wort
„nahe“ in seiner Patmos-Hymne verleiht. Die Semantik von „nah“ und „Nähe“
lokalisierte Reimarus im Zentrum des politischen Messianismus „nach Jüdischer
Redensart“:
Beides, das Himmelreich und die Bekehrung, hänget so zusammen, daß das Himmel
reich der Zweck ist, und die Bekehrung ein Mittel oder eine Vorbereitung zu diesem
Himmelreich. Durch das Himmelreich so jetzt nahe herbeigekommen war, und
76 Jesus [war ein, R. C.] bedeutender religiöser Refomator und politischer Messias, der am
Kreuz kläglich scheiterte.“ (Albert Schweitzer, Reimarus 1992 [1778]: 986 [Kommentar];
vgl. auch Schweitzer 61951: III) In ähnlichem Sinne sind die folgenden Abschnitte aus
Reimarus’ „Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger“ zu verstehen: § 2 Jesus versprach ein
„weltlich herrlich Regiment“); §§ 6-7 (vom weltlichen Charakter des Messiasreichs);
§§ 19-21 (über die Taufe); § 30 Jesus als Erlöser Israels, nicht des menschlichen Ge
schlechts); § 43 (Kritik an der „dilatorischen Vertröstung“ durch Paulus).