Page 86 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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84 I. Kapitel: Ursprünge
wovon das Evangelium die fröhliche Botschaft, denen Juden verkündiget ward,
verstehen wir, nach Jüdischer Redensart, das Reich Christi oder des Messias, worauf die
Juden so lange gewartet und gehoffet hatten. Das giebt die Sache selbst [...] Da nun
Jesus und Johannes diese Redensart nicht anders erklären, so haben sie auch dieselbe
in der bekannten und üblichen Bedeutung wollen verstanden wissen. Wenn es
demnach heißet, das Himmelreich ist nahe herbeikommen, so hat es den Verstand: der
Messias wird sich bald offenbaren und sein Reich anfangen. (Reimarus 1993 [1778]:
227, ZZ. 13-21 und 26-30)
Auch Hölderlin favorisiert dieses transzendent-immanente Gemisch des judäo-
christlichen Messianismus, wenn er um die Jahrhundertwende immer stärker dem
Pathos der diesseitigen und der baldigen Vorstellung vom „Reich Gottes“ verfällt:
Diese, teure Seele! daß unsere Zeit nahe ist, daß uns der Friede, der jetzt im Werden
ist, gerade das bringen wird, was er und nur er bringen konnte; denn er wird vieles
bringen, was viele hoffen, aber er wird auch bringen, was wenige ahnden. (Brief an
den Bruder Ende Dezember 1800; KHA III: 438, ZZ. 8-12 )
Dieses „daß unsere Zeit nahe ist “ evoziert die „Nähe“ des Himmelreiches, wie sie
in der Offenbarung des Johannes beschworen (1, 3 und 22, 10), bei Hesekiel vor
geprägt (Hes 12, 23), im Psalter besungen (z. B. Ps 25,5) und bei Matthäus
aufgegriffen wird (Mt 26, 18). Das ist nicht die pneumatische Ferne und
Transzendenz von Johannes dem Evangelisten oder Paulus. Die „Nähe“ und das
„Reich Gottes“ nach „Jüdischer Redensart“ (Reimarus) klingen in Hölderlins
messianischer Imminenz genauso an, wie die vielen anderen pantheistischen,
pneumatischen und stoizistischen Spurenelemente in seinem dialektischen
Denken. Wenn Hölderlin „nah(e)“ sagt, dann meint er die Nähe, an die der
Verfasser der Offenbarung appelliert, vielleicht sogar die politische „Nähe“, wie
sie dem Täufer vorschwebte. Auf jeden Fall ist es jenes apokalyptische Wort
,,nah(e)“ in seinem jüdischen Sinn, das Hölderlin in ‘Patmos’ auf dem Gipfel
seines späten Messianismus monolithisch aufrichtet:
Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott. (W . lf.)
4. Die Dialektik von Apokalyptik und Transitorik
An weiteren Briefbeispielen soll im folgenden die enge Verschränkung apoka
lyptischer und transitorischer Denkweisen veranschaulicht werden. Bereits im
zitierten Brief an die Mutter zieht Hölderlin für seine Epoche apokalyptische
Parallelen. Nicht nur, daß er auch in seiner Zeit das Ende „nahe“ glaubt,77 er ent-
77 Auch in einem Brief an die Schwester anläßlich des „ausgemachten Friedens“ von Luneville
spricht Hölderlin mit messianischem Pathos von der „nahen“ Zeit (KHA III: 444, Z. 34 -
445, Z. 5)