Page 87 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Apokalyptik versus Transitorik               85

       wirft  auch  ein  Szenario,  da  Aufklärungskultur  und  „Buchstabentheologen“  wie
       die „Pharisäer“  zur Zeit Jesu  (KHA III: 336,  Z.  33)  in  leerer Dogmatik erstarren,
       ein  Zustand,  der  nach  einer  messianischen  Krisis  und  Katharsis  verlangt.78  Liest
       man  Hölderlins  Gleichsetzung  des  18.  Jahrhunderts  mit  der  Zeit  Jesu  als
       typologische  Parallele,  so  kann  man  Hyperions  Scheltrede  und  Hölderlins
       briefliche Klagen über die  „Zerrissenheit“  der Deutschen79 als literarische  Zeugen
       einer  apokalyptischen  Umbruchszeit  lesen,  die  nach  messianischer  Erlösung
       geradezu schreit:
           Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah, wie jetzt.
           Sie  ist  eine  ungeheure  Mannigfaltigkeit  von  Widersprüchen  und  Kontrasten.  Altes
           und  Neues!  Kultur  und  Roheit!  Bosheit  und  Leidenschaft!  Egoismus  im  Schafpelz
           [sic],  Egoismus  in  der  Wolfshaut!  Aberglauben  und  Unglauben!  Knechtschaft  und
           Despotism!  unvernünftige  Klugheit!  unkluge  Vernunft!  geistlose  Empfindung,
           empfindungsloser  Geist!  Geschichte,  Erfahrung,  Herkommen  ohne  Philosophie,
           Philosophie  ohne  Erfahrung!  Energie  ohne  Grundsätze,  Grundsätze  ohne  Energie!
           Strenge  ohne  Menschlichkeit,  Menschlichkeit  ohne  Strenge!  heuchlerische  Gefäl­
           ligkeit,  schamlose  Unverschämtheit!  altkluge  Jungen,  läppische  Männer!  -  Man
           könnte die Litanei von Sonnenaufgang bis um Mitternacht fortsetzen und hätte kaum
           ein  Tausendteil  des  menschlichen  Chaos  genannt.  (Brief  an  Ebel  vom  10.1.1797;
           KHA IH: 251, Z.  35- 252, Z.  14)
       Hölderlin  fordert  seinen  Freund  Ebel  nach  dieser  Beschwörung  der  Gegensätze
       und Widersprüche  emphatisch  auf,  aus Paris  nach  Deutschland  zurückzukehren.
       Dieses  apokalyptische  Umbruchsbewußtsein  („menschliches  Chaos“)  verbindet
       sich mit Fortschrittsoptimismus und dem Glauben an den naturhaften Übergang,
       wenn  Hölderlin  an  anderer  Stelle  in  transitorischen  Naturbildern  spricht  wie
        „Gedeihen“  (KHA  III:  109,  Z.  23)  und  „Wachstum“  (T am os’  I,  V. 3f.)  oder
        „Keim“ und „Reife“ (KHA I:  109f.  ; 251, ZZ. 25-27; 252, Z. 21).
           Dabei  klingen  die  Chiasmen  des  Briefes  („unvernünftige  Klugheit,  unkluge

        Vernunft“) und die Antithesen der Scheltrede  („Handwerker siehst  du, aber keine
       Menschen [...]“)  wie Echos  auf die prophetischen Paradoxe bei Jesaja oder Arnos.
        Chiastische  und  antithetische  Rhetorik,  die  Hölderlin  in  seiner  „Litanei“
        (KHA III: 252,  Z.  12)  zum  prophetischen  Pathos  erhebt,  sind  polemische
       Bändigungen  gewaltiger  Energien:  Energien  des  Ungenügens  und Leidens  an  den
        Mißständen und Widersprüchen der Zeit; aber auch energetisches Wetterleuchten
        einer  apokalyptischen  Verheißung,  die  Hölderlin  von  den  Propheten  und  vom
       Johannes  der Offenbarung  übernimmt.  Diese  Spannungen  entladen  sich  dann  in
        apokalyptisch  gewendeten  Naturbildern  der  späten  Erlösungsszenarien.  Die
        „Vaterländischen  Gesänge“  und  sein Schlüsselgedicht  ‘Wie  wenn  am  Feiertage...’



         78  Vor  allem  die  Passage:  „Daß  Sie  meine  Äußerungen  über  Religion  mit  dieser  schönsten
            aller Freuden aufgenommen haben [...]“ (KHA III: 336, ZZ.  18ff.)
         79  „[...] ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen.  Handwerker
            siehst du, aber keine Menschen [...]“ (KHA II:  168, ZZ.  17ff.)
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