Page 88 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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86 I. Kapitel: Ursprünge
orchestriert Hölderlin mit apokalyptischen Naturbildern wie „Blitz“ (V. 3),
„Donner“ (V. 4), „Regen“[fluten] (V. 7), „Gottes Gewittern“ (V. 56) oder escha-
tologischen Topoi wie „himmlisches Feuer“ (V. 54) und „heiliges Chaos“ (V. 24).
Als Elementar- und Gewittermetaphorik schlagen die Naturbilder von Reife und
Wachstum vom Idyllischen ins Apokalyptische um.
Dieses Zugleich: schlagartige Entfesselung katastrophaler Naturgewalt und
sanfter Beginn einer Heilszeit, da Lamm und Löwe friedlich Zusammenleben, faßt
Gershom Scholem mit der Formel von den „Geburtswehen des Messias“ (Scholem
1968: 20). Scholem skizziert in seinem berühmten Aufsatz „Zum Verständnis der
messianischen Idee im Judentum“ (1959; vgl. Scholem 1968: 7-74) die Paradoxie
der apokalyptischen Vorstellung, die Trost und Grauen zugleich hervorruft.
Dieser apokalyptischen Paradoxie entspricht die Vorstellung von einer heilsamen
Verkehrung der „verkehrten“ Welt im Anbruch der Heilszeit. Die Verkehrung des
Verkehrten aber bedeutet Heilung und Frieden. Das wird in der paradoxalen
Struktur der Zustände deutlich, die z. B. Jesaja für den Jüngsten Tag verspricht
(Js 11, 6ff. zit. n. Heinrich Corrodi):
Der Wolf wird bey dem Lamme wohnen, und der Pardel bey dem Bock sich lagern.
Das Kalb, der junge Löwe, und das Mastvieh wird beysammen seyn. Und ein kleiner
Knab wird sie leiten. Kühe und Bären werden beysammen weiden, daß ihre jungen
bey einander liegen. Und der Löwe wird Stroh essen, wie ein Ochs. Und ein Säugling
wird sein [sic] Lust haben am Loche der Ottern, und ein entwöhnter Knab wird seine
Hand in die Hole [sic] des Basilisken stecken. Man wird nicht verletzen, noch
verderben auf meinem heiligen Berge. (Corrodi 1794 [1781]: I, 134f.)
Den positiven Umkehrungen der messianischen Zeit entsprechen die negativen
Verkehrungen der bestehenden Verhältnisse, die der Prophet polemisch brand
markt, und zwar in Chiasmen, Antithesen, Paradoxien.
Daß auch die Parallelisierung zweier apokalyptischer Epochen im Brief an
die Mutter keineswegs die katastrophalen Züge verabsolutiert, zeigt die Relati
vierung des apokalyptischen Vergleichs durch die naturzyklische Metapher dort
(KHA III: 337, 17-23). Das Zitat verdichtet ebenfalls das dialektische Zugleich von
apokalyptischer Denkfigur (Vergleich des Jahrhundertendes um 1800 mit der
Epoche Jesu Christi) und transitorischer Naturmythik („Aber gerade wie nach
dem Frühlung der Winter kömmt [...]“; KHA III: 337, ZZ. 20-23).
Auch der Brief an Ebel hat einen transitorischen Grundton, die zyklische Er
neuerung aus dem „Geistestode“ (KHA III: 337, Z. 21) tritt aber deutlich hinter
die radikalen Umbruchsphantasien zurück, wie sie im Diktum von der „künftigen
Revolution“ (KHA III: 252, Z. 17) aufflackern.80 Außerdem postuliert Hölderlin
80 Diese Nähe von Evolution und Revolution in Hölderlins Denken (und dem seiner Zeitge
nossen) wurde in der Ausstellung „Gestalten der Welt - Friedrich Hölderlin: Jena -
Frankfurt - Homburg“ (Bad Homburg im Juni 1996) veranschaulicht. Eine Tafel stellte
zwei Persönlichkeiten gegenüber, die den jeweils typisch „revolutionären“ bzw.
„evolutionären“ Standpunkt dieser Zeit vertraten: Johann Gottfried Ebel (1764-1830) enga-