Page 89 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Apokalyptik versus  Transitorik              87


       lediglich  die  prozessuale  Umkehrung  der  „Gesinnungen  und  Vorstellungsarten“
       (ebd.  ZZ.  17-19)  und  nicht  die  katastrophale  Erschütterung  der  kosmischen  wie
       der  politischen  Ordnung:  das  Ereignis  der  Erlösung  werde  „alles  bisherige“
       „schamrot“ und nicht etwa „blutrot“ machen (ebd.).
           Diese  Stellung  zwischen  fließender  und  bruchhafter  Erlösungsvorstellung
       läßt  sich  auch  durch  die  Datierung  des  Briefes  an  Ebel  (1797)  nachvollziehen.
       Schon  1793/94 hatte sich Hölderlin von den Ereignissen der terreur  in Frankreich
       distanziert,  indem  er  den  Tod  Marats  (KHA  III:  105,  Z.  8)  und  Robespierres
       begrüßte  (KHA  III:  152,  ZZ. 20-24).  Im  Jahre  1795  bereits  spricht  er  Hegel
       gegenüber von  seiner  Vorliebe  für  die Pneumatik  des Paulus  und empfiehlt  ihm
       die  Briefe  des  Apostels  als  Grundlage  für  dessen  geschichtsphilosophische
       Spekulationen (KHA III: 207, ZZ.  19-27; ebd. 208, ZZ. 35-37). In dieser Phase von
       Hölderlins  messianischem  Denken  dominieren  transitorisch-transzendente
       Denkweisen.  Mit  den Friedensschlüssen  und politischen  Umbrüchen  gegen Ende
       des  Jahrhunderts81  dagegen  beginnt  Hölderlin,  die  diesseitig-apokalyptische
       Dimension seiner Erwartung zu betonen: Immanenz und Imminenz  treten in den
       Vordergrund,  allerdings  gesteigert  im  Gegensatz  zum  modischen  Millenarismus
       der  Jugendzeit.  Dieses  frühere  „apokalyptische“  Denken  der  pietistisch  und
       supranaturalistisch  geprägten  Theologie ist  noch unpolitisch  und eindimensional;
       Hölderlin  hat  diese  naive  Apokalyptik  bis  zur  Jahrhundertwende  endgültig
       überwunden.  In  der  ersten  ‘Hymne  an  die  Freiheit’  hatte  Hölderlin  dieser
       Vorstufe eines apokalyptischen Millenarismus noch Ausdruck verliehen:82
                     Vor dem Geist in schwarzen Ungewittern,
                     Vor dem Racheschwerte des Gerichts
                     Lernte so der blinde Sklave zittern
                     Frönt’ und starb im Schrecken seines Nichts.  (W . 53-56)
       Wie  eng  apokalyptisches  und  transitorisches  Erwartungsmodell  bei  Hölderlin
       miteinander  verknüpft  sind,  hat  die pointierte  Gegenüberstellung von  Aussagen
       des  Briefes  an  Ebel  mit  Gedichten  und  Äußerungen  im  zeitlichen  Umfeld  des
       Briefes  gezeigt.  Apokalyptik  und  Transitorik  bleiben  dialektisch  aufeinander  be­


           gleite  sich  in  Paris  für  die  Französische  Revolution  und  wurde  von  den  Exzessen  tief
           enttäuscht;  Nikolas  Vogt  (1756-1834)  Universalhistoriker  in  Mainz  und  Verfasser  eines
           „Systems  des  Gleichgewichts  und  der  Gerechtigkeit“,  plädierte  für  einen  evolutionären
           Übergang zur neuen  Ordnung.  Deswegen mußte  er  1792  aus Mainz  fliehen,  als  die  deut­
           schen Jakobiner die Mainzer Republik ausriefen. Hölderlin soll Vogt nach dessen Züricher
           Aufenthalt in Mainz begegnet sein (vgl. Gaier u. a.:  1996: 42).
        81  Die Ereignisse im einzelnen: 22.4.1797 Frieden von Leoben;  10.7.1797 Frieden von Campo
           Formio;  15.6.1800 Waffenstillstand am Tag nach Marengo;  25.12.1800 Frieden von Steyr;
           9.2.1801  Frieden von Luneville; Anfang  1802 Frieden von Amiens  (vgl. dazu Keller-Loibl
           1995: 59-71).
        82  Hölderlins Jugendgedicht  ‘Die Bücher der Zeiten’  (KHA I: 65-70) ist ein schönes  Zeugnis
           dieser konventionellen Apokalyptik.
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