Page 90 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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8 8                      I. Kapitel: Ursprünge

           zogen.  Das  belegt  auch  das  Bekenntnis  zur  revolutionären  Tat  im  Brief  an  den
           Bruder von  Neujahr  1799,  ein  Typ  von  Aussage,  die  Bertaux  als Beleg für  Höl­
           derlins Jakobinismus gelesen hat (vgl. Bertaux 1990 [1969]):

               Vor  allen  Dingen  wollen  wir  das  große  Wort,  das  homo  sum,  nihil  humani  a  me
               alienum puto [Ubs.:  „Ein Mensch bin ich,  nichts Menschliches ist  mir daher fremd“],
               mit  aller Liebe und allem Ernste  aufnehmen; es soll uns  nicht  leichtsinnig, es soll uns
               nur wahr gegen uns selbst, und  hellsehend und duldsam gegen die Welt machen, aber
               dann  wollen  wir  uns  auch  durch  kein  Geschwätz  von  Affektation,  Übertreibung,
               Ehrgeiz,  Sonderbarkeit  etc.  hindern  lassen,  um  mit  allen  Kräften  zu ringen,  und  mit
               aller Schärfe und  Zartheit  zuzusehn,  wie wir alles Menschliche  an uns und  andern  in
               immer freieren und innigem Zusammenhang bringen, es  sei  in bildlicher Darstellung
               oder  in  wirklicher  Welt,  und  wenn  das  Reich  der  Finsternis  mit  Gewalt  einbrechen
               will, so werfen wir die Feder unter den Tisch und gehen in Gottes Namen dahin, wo
               die Not am größten ist, und wir am nötigsten sind.  (KFIA III: 334, ZZ. 20-34)
           Diese Worte klingen wie ein Echo auf das evolutionäre Postulat im Brief an Ebel,
           nur  mit  umgekehrten  Vorzeichen:  Hölderlin  favorisiert  hier  das  tätige
           Engagement, den Kampf für eine bessere Gesellschaft. Aber auch in dieser Passage
           bleibt  die  „Schärfe“  des  gewaltsamen  Umbruchs  verschränkt  mit  der  „Zartheit“
           der geistigen und erzieherischen Projekte;  die Feder soll  erst  ganz zuletzt mit  der
           Waffe  vertauscht  werden.  Die  Parallelität  von  „bildlicher  Darstellung“  und
           „wirklicher  Welt“  zeigt,  daß  Hölderlin  den  ästhetischen  Diskurs  und  den
           politischen Bereich einander beiordnet.
               Inwiefern  aber  trägt  dieser  Brief  Merkmale  apokalyptischen  Denkens?
           Schließlich  ist  ein  politischer  Messianismus  auch  rein  innerweltlich  ohne  apoka­
           lyptische  Umwälzungen  der  Natur  denkbar.  In  einer  einzigen  Wendung:  „[...]
           wenn  das  Reich  der  Finsternis  mit  Gewalt  einbrechen  will  [...]“  impliziert  Höl­
           derlin  eine  apokalyptische  Denkfigur.  In  der  Gnosis  nämlich  hat  der  Gedanke
           eines apokalyptischen Endzeitkampfes zwischen den  „Söhnen“ oder „Völkern des
           Lichts“ und denen der „Finsternis“ eine lange Tradition  (vgl.  Rudolph 21980: 215-
           221).83  Auch der Prophet  Hesekiel weissagt einen Kampf Gottes  gegen  Gog  (Hes
           38  und 39).  In  der Offenbarung des Johannes symbolisieren  Gog und Magog die
           heidnischen Völker,  die  am Jüngsten  Tag antreten,  um  die Kirche  zu vernichten
           (Offb 20, 8).
               Daß  die  Zeit  der  „Finsternis“  mit  „Gewalt“  anbrechen  soll,  heißt  demnach
           zweierlei: Die nahe Zeitenwende hat  apokalyptischen  Charakter,  ihre Umbrüche
           sind außerweltlich,  das  heißt  übernatürlich  begründet.  Zugleich  hat  diese Wende
           aber  auch  einen  innerweltlichen,  „kriegerischen“  Zug,  was  die  Führungs-  und
           Befreierrolle  einer  Messiasgestalt  notwendig  macht.  Außer-  und  innerweltliche
           Bilder verschmelzen in der Metaphorik des Gewitters. Mit Blitz, Donner, Flamme


            83  Auch in einer Schriftrolle aus Qumran gibt es die typisch apokalyptische Vorstellung vom
               Endzeitkrieg:  „The War of the Sons of Light against the Sons of Darkness“, vgl. Pearlman
               T993: 60-62.
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