Page 91 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Apokalyptik versus Transitorik              89

       und  Flut  evoziert  Hölderlin  einerseits  das  Wirken  einer  göttlichen  Macht;  an
       anderer  Stellle  beschreibt  er  die  Ausbreitung  der  menschengemachten
       Revolutionskriege ebenfalls mit dem Gewitterbild,  so z. B.  in der dritten  Strophe
       der  Ode  ‘Der  Prinzessin  Auguste  von  Homburg’.  Die  genaue  Datierung  des
       Gedichts,  „den  28ten  Nov.  1799“,  stellt  den  Bezug zum  zweiten  Koalitionskrieg
       her,  der  im  März  1799  ausgebrochen  war  und  dessen  Ende  Hölderlin  mit
       folgenden Verszeilen herbeisehnte:
                     Doch Andres beut dir, Größeres, hoher Geist!
                     Die festlichere Zeit, denn es hallt hinab
                     Am Berge das Gewitter, sieh! und
                     Klar, wie die ruhigen Sterne, gehen
                     Aus langem Zweifel reine Gestalten auf [...] (W. 9-13)

       Die  Analogie  „Gewitter“/„Kriege  der  Zeit“  bestätigt  auch  Jochen  Schmidt  (vgl.
       KHA I: 643).  Bernhard  Böschenstein  hat  die  Gleichsetzung von  „Gewitter“  und
       „Revolution“  eigens  untersucht  (vgl.  Böschenstein  1989:  166-186).  Auch  die
       Metaphorik  von  Gewitter,  Sturmflut  und  Feuer  in  den  Odenfassungen  ‘An
       EduardVDie  Dioskuren’  bzw.  ‘Der  blinde  Sänger’/ “Chiron’  und  in  der
       Feiertagshymne stehen  in diesem Zusammenhang.  Immer wieder mischen  sich in
       den Bildern von Donner,  Flut  und Blitz  kosmische  und politische Aspekte.  Wie
       treffend  Hölderlins  Bilderwelt  auch  physikalische  Wahrheiten  einbezieht  (oder
       genialisch  erahnt,  wo  der  Stand  der  Forschung  noch  nicht  so  weit  war),  zeigt
       besonders  die  Blitzmetaphorik.  Hölderlin  liebt  es,  im  Blitzschlag  den  Einbruch
       des Göttlichen zu veranschaulichen.84








        84  Blitze gelten bis auf den heutigen Tag als Rätsel unter den elektrischen Phänomenen. Trotz
           modernster Meßmethoden blieben Entstehung, Verlauf und materielle Struktur der Blitze
           weitgehend  im  Dunkeln.  Damit  haftet  dem  Blitz  etwas  Inkommensurables  und  Quasi-
           Ubernatürliches  an.  Auch  der  Begriff  des  „heiligen  Chaos“,  den  Hölderlin  im
           Zusammenhang  mit  Sturm  und  Gewitter  in  seinen  Gedichten  gern  gebraucht,  offenbart
           Aspekte des physikalischen Phänomens: Wie und wo Blitze sich Bahn brechen, bleibt trotz
           aller Berechnungen höchst willkürlich und „chaotisch“. Blitze vereinen in ihrer materiellen
           Ausdehnung das Große und Gewaltige  (bis zu  15 km Länge, Stromstärken von  10.000 bis
           30.000 Ampere) mit dem Kleinen (nur ca. 2 cm Durchmesser).
              In  der  wissenschaftlichen  Diskussion  gibt  es  auch  die  Vorstellung  vom  Blitz  als
           Manifestation  einer  theoretisch  denkbaren  Singularität.  Das  ist  ein  Zustand,  da  die
           (bekannten)  Naturgesetze  momentan  außer  Kraft  gesetzt  erscheinen  (z. B.  ein  Schwarzes
           Loch).  Naturgeschichtlich  können  Blitzschläge  und  ihre  Folgen  (Feuer,  elektrochemische
           Reaktionen) für Einflüsse verantwortlich gewesen sein, die die Evolution von Mensch und
           Natur  entscheidend  angestoßen  oder  zumindest  beeinflußt  haben  (zur  Bedeutung  des
           Motivs für die Aufklärung vgl. Briese 1998:  17ff.).
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