Page 92 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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90                       I. Kapitel: Ursprünge


                        5.  „Rejudaisierung" des christlichen Messianismus?
          Hölderlins  Wende  zur  Naherwartung  wirft  die  Frage  auf:  Kann  man  diese  dia­
          lektische Integration der immanenten und transzendenten Erwartungsaspekte zur
          Imminenz, wie  sie  sich  im  ,,nah(e)“  von  ‘Patmos’,  in  der  Festszene  der

          ‘Friedensfeier’  oder  der  „Tag!  Tag!“-Vision  Chirons  ausdrückt,  als  eine  Tendenz
          im Denken Hölderlins auffassen, die ein ursprünglich jüdisches Messiasverständnis
          wieder  freizulegen  trachtet?  Dies  etwa  im  Sinne  einer  „Apotheose  des  Frühen“
          und  Ursprünglichen  aus christlicher Sicht  (Taubes  1993:  16)  und  ungeachtet  der
          Tatsache,  daß  es  sich  bei  der  Apokalyptik zur  Zeit Jesu  um  Manifestationen  der
          „spätjüdischen  Eschatologie“  (Schweitzer  61951:  III,  28f.)  gehandelt  hat?  Hat  die
          usprüngliche Mischung der jüdischen Messiasvorstellung, ihr Oszillieren zwischen
          abstrakter  Zeitlosigkeit  und  nationaler  Immanenz  die  Spekulationen  der  Stiftler
          zumindest beeinflußt? Man denke nur an Schillers Verweis auf das Alte Testament
          als  Quelle  für  einen  neuen  Ton  in  der Dichtkunst  in  seinem  Brief  an  Hölderlin
          („Sie  haben  Moses  und  die  Propheten   KHA  III: 532,  ZZ.  1-4)  oder  Hegels
          Vorliebe für die „Natursprache“ des Buches Hiob (StA VII/1, Dokument Nr.  112;
          vgl. Brecht  1973/74: 41).
              Die  Geschichte  des  apostolischen  Christentums  (im  Unterschied  zur  histo­
          rischen  Lehre  des Jesus  von  Nazareth)  entspricht  umgekehrt  ja  tatsächlich  einer
          pneumatischen Entmischung des immanent-transzendenten Doppelcharakters des
          judäochristlichen  Messianismus  durch Petrus, Johannes  und Paulus.  So  zeichnete
          sich  eine  Entwicklung  ab,  die  über  Martin  Luther  zur  protestantischen  Obrig­
          keitshörigkeit  geführt  („cuius  regio,  eius  religio“)  und  im  Katholizismus  die
          staatsaffirmative  „Reichstheologie“  begründet  hat  (vgl.  Faber  1995:  155-163).  Die
          chiliastischen  Strömungen  der frühen  Neuzeit  und  des  17.  und  18.  Jahrhunderts
          wären  demnach  als Wiederherstellung des ursprünglichen  Mischungsverhältnisses
          der  messianischen  Idee  des  Judenchristentums  zu  verstehen.  Diese  Bewegungen
          wollten  die  messianische  Idee  repolitisieren  und verstanden  dies  stets  als  Zurück
          zur eigentlichen, ursprünglichen Natur des messianischen Denkens.
              Diese Rückkehr läßt sich auch als Besinnung auf die jüdisch-apokalyptischen
          Wurzeln des messianischen  Gedankens fassen.  Schon die „letzte Apokalypse“, die
          Offenbarung des Johannes  (Taubes  1991:  69),  wird von  der  modernen Religions­
          wissenschaft  als  eine  erste  Rückbesinnung  auf die  apokalyptische  und  damit  die
          judäochristliche Essenz der messianischen Naherwartung gelesen  (ebd. 43-46). Mit
          den  nichtkanonischen  Apokalypsen  (Baruch,  Esra,  Henoch,  Abrahahm-  und
          Zehn-Wochen-Apokalypse)  hat  die  Offenbarung  des  Johannes  wahrscheinlich
          einen jüdischen Kern gemeinsam,  der lediglich christlich überarbeitet wurde  (vgl.
          Taubes  1991: 69).  Dieser jüdische  Kern  der  Offenbarung  wird  noch  im  Patmos-
          Kapitel wichtig.
              Interessant  bleibt  zunächst,  wie beide Tendenzen,  die transzendierend christ­
          liche  und  die  immanent  jüdische,  sich  in  Gestalt  und  Namen  des  Johannes
          verdichten.  In  seiner  doppelten  Funktion  als  politischer  Apokalyptiker  und
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