Page 93 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Rejudaisierung des Christlichen?             91

      pneumatischer  Evangelist  verleiht  Hölderlin  ihm  in  ‘Patmos’  einen  hohen  Rang
      neben  Christus  und den  synkretistischen  Heroen  (Herakles, Dionysos,  Christus,
      Peleus).  Dem  entspricht  die Tatsache,  daß  Sekten  die Offenbarung des Johannes
      immer  wieder  als  „Magna  C[h]arta  des  Chiliasmus“  (Taubes  1991:  70)  feierten.
      Nicht  umsonst  auch,  daß  diese  chiliastischen  Bewegungen  in  Gestalt  vor­
      protestantischer  Sekten  oder  reformierter  Abspaltungen  als  „judaisierende
      Ketzereien“  bezeichnet  wurden,  was  Gershom  Scholem  in  seiner  phänomeno­
      logischen Beschreibung des Chiliasmus erwähnt:
          Dieser messianische Aktivismus liegt übrigens in jener merkwürdigen Doppellinie der
          gegenseitigen  Beeinflussung  von  Judentum  und  Christentum,  die  mit  inneren  Ent­
          wicklungstendenzen  beider  Religionen  Hand  in  Hand  geht.  Der  politische  und
          chiliastische  Messianismus  bedeutender  religiöser  Bewegungen  innerhalb  des
          Christentums  erscheint  oft  als  eine  Widerspiegelung  eines  eigentlich  jüdischen
          Messianismus.  Es ist bekannt, mit welchem Nachdruck solche Tendenzen von ihren
          orthodoxen  Gegnern  im  Katholizismus  und  Protestantismus  gleicherweise  als
          judaisierende Ketzereien  verschrien wurden, und zweifellos ist rein phänomenologisch
          gesehen etwas an diesen Vorwürfen wahr, wenn auch in der historischen Wirklichkeit
          diese Tendenzen doch  zugleich spontan aus den Versuchen hochkommen, den Mes­
          sianismus ernst zu nehmen, aus einem Gefühl des Ungenügens an einem Reich Gottes,
          das nicht unter uns, sondern in uns liegen sollte. (Scholem 1968: 35)
      Solches „Ungenügen“ an Vertagung und Vertröstung der paulinischen Pneumatik
      motivierte die politisch Erregten des christlichen Abendlandes zum Aufbegehren.
      Die  Chiliasten  empörten  sich  nicht  nur angesichts  der  bestehenden  Verhältnisse,
      sondern ihre Wut  galt  auch der christlichen  Bändigung des jüdischen  „das-Reich-
      sei-««fer-uns“  zum  „das-Reich-sei-m-uns.“  Die  paulinische  Theologie  hatte  die
      politische  Präsenz  der  messianischen  Ordnung  unter  den  Menschen  zur  geistig­
      mystischen „Gegenwärtigkeit“ des Gottesreiches in  den Menschen domestiziert.
          In  dieser  Spannung  zwischen  pneumatischer  Verinnerlichung  und  mes-
      sianischer Veräußerlichung steht  auch  Hölderlins Denken.  Der  Gegensatz  beider
       Auffassungen verdichtet  sich  in der Formel von  „Kraft  und Geist“,  die Hölderlin
       (vor allem  im Hyperion) fast  leitmotivisch vorbringt  (KHA II:  120,  Z. 25).  In der

      Formel reduzieren sich die beschriebenen Gegensätze auf drei Silben:  „Kraft-und-
       Geist“ bedeutet Hölderlin die Synthese von immanenter Erlösungsbemühung und
       metaphysischer  Wegbereitung  durch  inneres  Wirken,  also  Kunst,  Philosophie,
       Erziehung.   Der  Begriff  „Kraft“  bedeutet:   herakleische   Kühnheit   und
       Tatentschlossenheit,  „Arbeit“ und „Kampf“  in Zeiten von Entrechtung und Ohn­
       macht; der Begriff „Geist“  dagegen:  ikarische Vergeistigung des messianischen An­
       spruchs,  Geduld,  ästhetische  und  erzieherische  Sendung.  In  dem  Augenblick,  da
       Hyperion sich zum Engagement  im  griechischen Befreiungskampf bekennt,  setzt
       er  die  Formel  als  ideale  Motivationsmischung  gegen  die  „Krücke“  und  den
       „wächsernen Flügel“ der ikarischen Geistigkeit:
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