Page 123 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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Fürstenhöfe  zum  Schauplatz  der  Konkurrenz  zwischen  Adel  und
                        Bürgertum. Trotz eines funktionierenden Zensurwesens spielte man
                        gerade bei Hofe die neuen bürgerlichen Dramen und Trauerspiele,
                        die zumindest indirekt ein gerüttelt Maß an Adelskritik enthielten.

                        Auf  der  Bühne  waren  Aristokraten  auf  einmal  die  Bösewichter!
                        Diese neue deutsche Dramatik war so innovativ, dass die Hof- und
                        Residenztheater nicht umhin kamen, auch diese an sich ja brisanten
                        Stücke zu spielen. Der immens ansteigenden Produktion von Tragö-

                        dien,  Lustspielen  oder  Farcen  aus  England  und  Frankreich  sowie
                        der Fülle von Opern und Operetten aus Italien (der maßgeblichen
                        musikalischen Großmacht jener Epoche) hatten die Herrscherhäuser
                        kulturell  nicht  viel  entgegenzusetzen.  Höfische  Thatertraditionen

                        wie Maskenzüge und Festspiele waren zwar noch lebendig, wirkten
                        aber selbst auf den adeligen Zuschauer arg verzopft. Auch das hö-
                        fische  Publikum  wollte  am  neuen  Theater  teilhaben.  So  beeilten
                        sich  die  Fürsten,  eigene  höfische  ›Nationaltheater‹  einzurichten

                        oder aber deren Errichtung in ihren Residenzstädten zu finanzieren.
                        Die  Bezeichnung  ›Nationaltheater‹  zielte  dabei  zunächst  sehr
                        selbstbewusst auf den Anspruch, das bedeutendste oder sogar ein-
                        zige Theater von Rang im jeweiligen Umkreis zu sein. Diese ›Hof-

                        und  Nationaltheater‹  dienten  als  kompensatorisches  Ventil  nach
                        innen. Zum anderen setzten sie ein Signal an die fürstlichen Kon-
                        kurrenten nach außen, um einen Alleinvertretungsanspruch deutlich
                        zu machen. Regentenhöfe in Berlin, Dresden, Mannheim, München,

                        Stuttgart  oder  Wien  wagten  diesen  Schritt,  der  ja  auch  enorme
                        ökonomische  Ressourcen  band.  Zum  Teil  wurden  dazu  die  zuvor
                        nur auf Zeit engagierten Wandertruppen einfach übernommen, ein
                        Modell,  das  sich  vor  allem  für  kleinere  Hofhaltungen  wie  Gotha

                        oder  Weimar  aufdrängte.  Aufgrund  der  Konkurrenz  durch  die
                        partikulare Aufsplitterung kam es jedoch im deutschen Reich rasch
                        zu einer Inflation solcher  ›Nationaltheater‹. Das führte dazu, dass
                        sich  der  damit  verbundene  Anspruch  auf  politisch-kulturelle

                        Hegemonie binnen weniger Jahre erschöpfte. Übrig blieb allein die
                        Tatsache,  dass  an  einem  Nationaltheater  in  deutscher  Sprache
                        gespielt wurde! Seitdem bedeutete das Etikett ›Nationaltheater‹ im








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