Page 29 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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entstand das Romanfragment in eben jener wichtigen Lebensphase
zwischen 1777 und 1785, da Goethe sich selbst immer wieder
praktisch selbst ausprobierte auf den Brettern, die die Welt
bedeuten. Mit den späteren Fassungen des Wilhelm-Meister-Stoffes,
die sich an seinen »Urmeister« anschlossen, setzte er seiner eigenen
Theaterpraxis vollends ein weltliterarisches Denkmal.
Vor diesem Hintergrund erscheint es vielversprechend, auch die
Selbstinszenierung des späten Goethe auf seinem Dichterthron in
Weimar unter dem Aspekt der Begeisterung für die ›Schauspielerei‹
neu zu beleuchten. Denn Gestus und Gebärde der späten Gespräche
mit dem Kanzler Friedrich Müller, Friedrich Wilhelm Riemer oder
Johann Peter Eckermann, aber auch das Verhalten des alternden
Dichterfürsten gegenüber den vielen goethefrommen Weimar-
pilgerinnen und -pilgern wirkten häufig wie eine Inszenierung
seiner selbst. So gefiel sich Goethe wiederholt in der Rolle des
unnahbaren ›Olympiers‹, der seine auf eine Meinungsäußerung
erpichten Gäste mit einem orakelhaften »Hm, hm« beschied oder
gar gänzlich schwieg (vgl. im Kapitel »Selbstzeugnisse: Johann
Wolfgang Goethe«, Punkt 8: ›Stilisierung in Begegnungen und
Gesprächen‹). Zahlreiche Kunstgriffe der Selbststilisierung schöpfte
Goethe damit aus der praktischen Schauspielkunst. Goethe war
nicht nur − er verkörperte und ›mimte‹ auch den großen Dichter.
Frankfurter Kindheit
Im Hause Goethe spielten die Geschwister Wolfgang und Cornelia
bereits im Kindesalter mit Marionetten und Theaterpuppen. So
berichtet Goethe in Dichtung und Wahrheit, dass die Geschwister-
kinder zu Weihnachten 1753 ein eigenes Puppentheater geschenkt
bekamen. Dadurch begegneten sie auch erstmals dem Faust-Stoff
des Volksbuches. Faust und Mephisto traten den Kindern erstmals
in ihren Verkörperungen als Marionetten oder möglicherweise auch
als silhouettierte Puppen aus Karton (Papiertheaterfiguren) vor
Augen (vgl. dazu das Kapitel »Selbstzeugnisse: J. W. Goethe«,
Punkt 1 a und b, ›Frankfurter Puppenspiel‹).
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