Page 30 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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Was die darstellerische Begabung betrifft, hatte Goethes Mutter
Catharina Elisabeth Goethe von beiden Elternteilen sicher stets den
maßgeblichen Einfluss auf den kleinen Johann Wolfgang. Die
Mutter verlebendigte nicht nur als eifrige Vorleserin zahlreiche
Mythen, Märchen und Sagen, darunter die Erzählungen aus 1001
Nacht. Sie war auch eine begeisterte Besucherin der Theater ihrer
Heimatstadt Frankfurt. Mit dem später in Frankfurt sehr erfolg-
reichen Schauspieler und Theaterdirektor Gustav Friedrich Groß-
mann (1746-1796) verband sie eine Freundschaft, die sogar durch
einen erhaltenen kleinen Briefwechsel bezeugt ist. So war es auch
der Großvater mütterlicherseits, der Stadtschultheiß Johann Wolf-
gang Textor, der die Theaterleidenschaft in seinem Enkel weckte
und förderte, indem er ihm ein Freibillett für das Theater schenkte
schenkte. Dieser Vorläufer einer modernen Dauerkarte ermöglichte
es dem Heranwachsenden, das französischsprachige Theater in
Frankfurt regelmäßig zu besuchen, das während der Besetzung
Frankfurts in den Jahren 1759 bis 1762 durch die Franzosen ein-
gerichtet worden war. Goethe selbst sprach später vom »täglichen«
Theaterbesuch während der Spielzeiten. Mit einem gleichaltrigen
Jungen aus diesem frankophonen Theatermilieu freundete sich
Goethe an. Bei dem Jungen, den Goethe nur »Derones« nennt,
handelte sich um einen von zwei Söhnen aus der französischen
Schauspielerfamilie De Rosne. Er war wohl ein uneheliches Kind
der Mutter der Familie mit dem Theaterdirektor Baptiste Renaud,
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den die französischen Besatzer für die Stadt engagiert hatten.
Johann Wolfgang kannte den Theaterknaben bereits aus einigen
kleineren Nebenrollen von der Bühne her. Als wahrer Intimus des
Theaterlebens führte De Rosne den kleinen Goethe hinter die
Kulissen des französischen Komödienhauses. Wissbegierig erlebte
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Vgl. Albert Richard Mohr: Frankfurter Theater von der Wandertruppe zum
Komödienhaus. Ein Beitrag zur Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts.
Frankfurt/Main 1967, S. 46f. Elisabeth Schippel Mentzel: Geschichte der
Schauspielkunst in Frankfurt a. M. von ihren Anfängen bis zur Eröffnung
des Städtischen Komödienhauses (Archiv für Frankfurts Geschichte und
Kunst, N. F.; 9). Frankfurt/Main 1975, S. 272 [zuerst 1882].
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