Page 31 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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dieser erstmals die für jene Zeit sehr freizügigen und teilweise auch
als anrüchig geltenden Seiten des Theaterbetriebes. So wechselten
Akteure wie Aktricen in der Theatergarderobe recht ungeniert ihre
Kostüme. Die Jungen bekamen also ›nackte Tatsachen‹ zu sehen,
ein für die gesellschaftlichen Anstandsvorstellungen jener Zeit
unerhörter Vorgang, an den die Jugendlichen sich allerdings nach
einem tiefergehenden ersten Eindruck auf ihre forschen Gemüter
rasch gewöhnten (vgl. »Selbstzeugnisse: J. W. G.«, Punkt 2, ›Fran-
zösisches Theater‹).
Aus der Rückschau betonte Goethe zudem, dass sich die Knaben
im Umfeld jenes Theatermilieus darin gefielen, komische und tra-
gische Stücke aus dem Französischen auswendig zu lernen, um
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daraus zu rezitieren. Auf diese Weise, so Goethe, habe er sich die
fremde Sprache vor allem dadurch angeeignet, dass er auswendig
gelernte Zitate aus Theaterstücken des französischen Klassizismus
zum Besten geben konnte, um damit Freunde und Verwandte mit
seinem geschliffenen Französisch zu beeindrucken. Im täglichen
Beisammensein mit seinem Theaterfreund wird Goethe jedoch
tatsächlich auch echte Fortschritte in seiner Sprachfertigkeit
gemacht haben.
Die Faszination, die der junge Goethe von seinen Abenteuern vor
und hinter der Bühne mit nach Hause nahm, wurde im engsten
Familienkreise weiter befeuert. Johann Daniel von Olenschläger
(1711-1778), ein befreundeter Jurist des Hauses, organisierte Auf-
führungen der Kinder im gemeinsamen Familienkreis. Im Rahmen
dieser privaten Amateurtheaterabende sind auch die ersten eigenen
kleinen Rollen des Knaben Goethe bezeugt. So studierte Olen-
schläger Jean Racines Britannicus mit den Kindern ein und brachte
das Stück zur Aufführung. Das Stück von 1669, eine 5-aktige
Historientragödie im Stil des französischen Klassizismus, ist für
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Vgl. dazu Goethes ausführliches Selbstzeugnis im 3. Buch von Dichtung
und Wahrheit, Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 26, 1889, S. 141-144. Diese Be-
schreibungen der frühen Frankfurter Theatererfahrungen wurden allerdings
erst Jahrzehnte später niedergeschrieben, in diesem Falle stammen sie in
etwa aus dem Herbst 1809 (Erstdruck postum 1833).
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