Page 45 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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junge Iffland in eben jenem denkwürdigen Jahr 1779 nach Mann-
                        heim gewechselt. Dort verlebendigte er nun mit Nachdruck all jene
                        Realitätsnähe  in  der  Charakterdarstellung,  die  er  als  erfolgreicher
                        Schüler  Ekhofs  so  verinnerlicht  hatte.  Zudem  trieb  ein  hoch-

                        motiviertes  Naturtalent  wie  Iffland  diesen  innovativen  Schau-
                        spielstil noch  auf die  Spitze, indem  er  ihn  in  seiner  charakteristi-
                        schen Kunstfertigkeit perfektionierte.
                           Auf diese Weise wurde Goethe an jenem Dezembertag in Mann-

                        heim gleichsam über Nacht mit einem Darstellungs- und Sprechstil
                        auf der Bühne konfrontiert, der allen seinen eigenen zaghaften An-
                        sätzen im Rahmen des Weimarer Liebhabertheaters seit 1775 dia-
                        metral zuwiderlief. Goethe sah sich womöglich sogar persönlich in

                        seinem  Selbstbild  als  ambitionierter  Laiendarsteller  in  Frage  ge-
                        stellt. Man denke nur an die Darstellung seiner Person in der Rolle
                        des Orest vom Frühjahr des gleichen Jahres, festgehalten auf dem
                        berühmten Ölgemälde von Georg Melchior Kraus Goethe als Orest
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                        und  Corona  Schröter  als  Iphigenie  (1779).   Das  Bild  bannt  den
                        statuarischen  Charakter  des  frühen  Weimarer  Theaterstils  bei  der
                        Uraufführung von Goethes Iphigenie am 6. April 1779 im Redou-
                        tentheater auf so sinnfällige Weise ins Bild, dass die Differenz zum

                        vermutlich furiosen Spiel des jungen Iffland unmittelbar ins Auge
                        springt.  Man  denke  nur  an  die  so  zahlreichen  zeitgenössischen
                        Darstellungen  Ifflands  in  seinen  Bühnenrollen!  In  Anton  Graffs
                        berühmter Darstellung von Iffland als Pygmalion dienen ja ausge-

                        rechnet  die  Umrisse  der  antiken  Skulptur  als  Gegenbild  zur
                        gestischen Lebendigkeit von Ifflands Bühnenspiel! Iffland hauchte
                        der antikisierenden Statuarik Leben ein; er war es, der die Statik der
                        klassizistischen Bühnensprache mit seiner gleichsam täuschend echt

                        erscheinenden Charakterdarstellung konterkarierte.

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                           »Corona Schröter als  Iphigenie und J. W. Goethe als  Orest  in  der Urauf-
                           führung  der  Prosafassung  der  ›Iphigenie  auf  Tauris‹  am  6.4.1779  im
                           Hauptmannischen  Redoutensaal  an  der  Esplanade.«  (Abbildungstitel  der
                           Wiedergabe in: Goethe-Handbuch, hrsg. von Bernd Witte, Theo Buck u. a.
                           Bd.  2:  Dramen.  Weimar;  Stuttgart  1996,  S. 26).  Das  Aufführungsdatum
                           belegt  keine  direkte  Datierung  des  Bildes  (vgl.  B. Knorr  2003,  II,  S. 17,
                           Sp. 2: Iphigenie und Orest; siehe unter »Literatur«, Punkt 6: »Bildquellen«).






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