Page 48 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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haben, daß er gerade die Grenzen dieser Verwandlungsfähigkeit bei ihm
                           nicht  erkannte.  Denn  wie  aus  allen  über  Ifflands  Kunst  erhaltenen
                           Urtheilen hervorgeht, kann er kaum ein vollendeter Vertreter des Egmont
                           gewesen  sein.  Ifflands  Kunst  wurzelte  nicht  in  einer  starken,  schöpfe-
                           rischen Phantasie, nicht in einem großen Temperament, sondern in klug
                           berechnender  Überlegung,  in  der  Vernunft;  er  war  das  was  man,  im
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                           besten Sinne, einen denkenden Künstler nennt.«

                        Die »Menschenmahlerei«, wie Iffland seine Kunst selbst nannte, die
                        auf realistische Wirkung abzielte und auch naturalistische Effekte
                        einkalkulierte, entsprach Goethe zufolge aber eben eher den Rollen

                        des ›niederen‹ Faches, dem bürgerlichen Rührstück und Lustspiel:

                           »Daher wußte er auch niemals groß angelegten, mit tiefem Gefühl oder
                           mächtiger Leidenschaft begabten Naturen gerecht zu werden; vorzüglich
                           aber  gelangen  ihm  die  im  Kreise  enger  Bürgerlichkeit  behaglich  in
                           Scherz  und  Ernst,  und  nicht  minder  die  auf  dem  glatten  Parkett  der
                           feineren Gesellschaft mit aristokratischer Vornehmheit und Grazie sich
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                           bewegenden Figuren.«

                        In  einer  Stellungnahme  zur  vermeintlichen  (Nicht-)Entstehung
                        eines ›deutschen Theaters‹ von 1811 schreibt Goethe einem wahren
                        Vorzeige-Darsteller wie Iffland sogar einen negativen Einfluss zu.
                        An der Seite Ekhofs und Schröders habe Iffland publikumswirksam

                        mit  dafür  gesorgt,  dass  das  deutsche  Theater  nicht  über  den
                        mittelmäßigen  Rationalismus  eines  Gottsched  hinausgelangt  sei.
                        Womit  Goethe  auf  die  regelpoetische  Kalkuliertheit,  die  Orien-

                        tierung an vernünftigen Grundsätzen abzielt, die für das Theater der
                                                                           58
                        deutschen  Frühaufklärung  prägend  blieb.   Diesen  Prinzipien


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                           Julius Wahle: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung, 1892, S. 97.
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                           Julius  Wahle:  Das  Weimarer  Hoftheater  unter  Goethes  Leitung,  1892,
                           S. 97f.  Vgl. dazu auch die im Kontext unmittelbar zuvor erfolgende Präzi-
                           sierung: »Die meisten Rollen lagen auf dem Gebiete, auf dem Iffland unbe-
                           strittener  Meister  war:  im  Conversations-  und  bürgerlichen  Sittenstück
                           konnte er die ganze Kunst seiner feinen, bis in die kleinsten Details sorg-
                           fältig  ausgearbeiteten  Charakteristik  und  seines  naturwahren  Sprechtones
                           ausbreiten.« (ebd., S. 96)
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                           Vgl. dazu die Vertiefung bei G. Baumbach 2012, I, S. 84-89, hier insbes.
                           S. 87 (»Schauspielstile? Schiller und Goethe?«).






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