Page 46 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
P. 46

Mit  Blick  auf  Goethe  scheint  auch  der  autobiografische  Gehalt
                        der Dramenhandlung um die beiden Hauptfiguren des in Mannheim
                        gespielten Dramas, Clavigo und Carlos, bedenkenswert. In gewisser
                        Weise stellen die beiden Figuren bereits eine Frühform der Zwei-

                        Seelen-in-einer-Brust-Problematik  dar,  wie  sie  Goethe  später  im
                        Tasso  oder  im  Faust  vertiefen  wird.  Der  höfische  Intellektuelle
                        Clavigo  und  der  kühl  kalkulierende  Carlos,  der  seinen  Freund
                        davon  abbringt,  eine  für  dessen  Karriere  abträgliche  Verbindung

                        mit  Marie  einzugehen,  was  auf  tragische  Weise  den  Tod  der
                        Geliebten zeitigt  diese dramatische Zuspitzung spiegelte natürlich
                                                                                     53
                        auch  Reflexe  von  Goethes  eigener  Lebenserfahrung.   Außerdem
                        handelt es sich um eine geradezu urgoethesche Anordnung, und die

                        Analogie  zur  Konstellation von  Faust, Mephisto und  Gretchen ist
                        offensichtlich.  Goethe  erlebte  mit  Ifflands  Talentprobe  gewisser-
                        maßen  einen  ernüchternden  Blick  auf  sich  selbst,  und  zwar  in
                        Gestalt  jenes  Mannes,  der  ihm,  Goethe,  in  seinem  ›heimlichen‹

                        Rollenverständnis als ›Schauspieler‹ künstlerisch um Welten voraus
                        war!  Insofern  mag  Iffland  für  den  dilettierenden  Schauspiel-
                        enthusiasten Goethe buchstäblich ein Rollenvorbild gewesen sein.
                        Ein weiterer Zufall schließt den Kreis. Nur wenige Wochen später

                        versuchte sich der junge Karlsschüler Schiller in einer Aufführung
                        zum Geburtstag von Herzog Karl Eugen in Stuttgart ebenfalls in der
                        Rolle des Carlos. Wobei sich die unterschiedliche Schöpfungshöhe
                        zwischen dem schauspielernden Jungdichter (Schiller) und dem auf

                        der  Bühne  brillierenden  Schauspieltalent  (Iffland)  offenbarte.
                                                                              54
                        Schiller fiel bei Publikum und Kritik glatt durch.

                        53
                           »Die […] skizzierte biographische Entwicklung G[oethe].s mag Anlaß ge-
                           ben, seine familiären Lebensumstände und die Widersprüche der Clavigo-
                           Figur aufeinander zu beziehen. […] Eine biographistische Ineinssetzung von
                           Leben  und  Werk  indes  ist  hier  nicht  gemeint  […].  Allerdings  bleibt  der
                           Aspekt  der  exemplarischen  Erfahrung,  die  modellhaft  […]  ins  Werk  ein-
                           fließt.« (Gunter Reiß: [Artikel] Clavigo. In: Goethe-Handbuch [wie Anm.
                           im Vorigen], Bd. 2, S. 117).
                        54
                           »Das Publikum allerdings quittierte das ›Brüllen‹, ›Schnauben‹ und ›Stamp-
                           fen‹  des  schauspielernden  Eleven  mit  Lachen,  die  Rezensenten  mit  dem
                           Prädikat ›abscheulich‹.« (G. Reiß: Clavigo [wie Anm. im Vorigen], S. 120)






                                                             44
   41   42   43   44   45   46   47   48   49   50   51