Page 49 - Robert Charlier: Goethe und August Wilhelm Iffland (1779-1814)
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zufolge sollte der Bühnenkünstler weniger durch realitätsnahe
Darstellung unterhalten als vielmehr sittlich belehren und erbauen.
Goethe beendet seine Aufzählung von Gründen für diese Misere:
»Ein Drittes hat sodann auf eine fortdauernde und vielleicht nie zu
zerstörende Mittelmäßigkeit des deutschen Theaters gewirkt. Es ist die
ununterbrochene Folge von drei Schauspielern, welche, als Menschen
schätzbar, das Gefühl ihrer Würde auch auf dem Theater nicht aufgeben
konnten und deßhalb mehr oder weniger die dramatische Kunst nach
dem Sittlichen, Anständigen, Gebilligten und wenigstens scheinbar
Guten hinzogen. Ekhofen, Schrödern, Ifflanden kam hierin sogar die
allgemeine Tendenz der Zeit zu Hülfe, die eine allgemeine An- und
Ausgleichung aller Stände und Beschäftigungen zu einem allgemeinen
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Menschenwerthe durchaus im Herzen und im Auge hatten.«
Vor diesem Hintergrund erscheint Goethes höchste persönliche
Wertschätzung des Schauspielers und Briefpartners Iffland durch-
aus ambivalent. Denn dessen Schauspielkunst und Regiestil liefen
Goethes Theaterkonzeption diamtral entgegen. Goethes Seitenhiebe
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gegen die »Rhythmophobie« des Ifflandschen Bühnenstils oder
die vermeintliche ›Poesielosigkeit‹ von dessen Dramentexten
wurden bereits erwähnt. Die erwartbaren Differenzen machen sich
so auch als Unterströmung in Äußerungen bemerkbar. Anlässlich
59 Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 40, 1901, S. 176 (Hervorhebungen original) ‒ Der
kurze Text ist nicht zu verwechseln mit dem Aufsatz Über das deutsche
Theater (1815), der die Kooperation mit Schiller auf dem Weimarer Theater
anhand von Bearbeitungsbeispielen ausführlich dokumentiert.
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In seiner Rede zur Neueröffnung des nach Plänen des Architekten Thouret
umgebauten Weimarer Komödienhauses am 12. Oktober 1798 lobte Goethe
den Weimarer Schauspieler Vohs mit den folgenden Worten: »Dieser vor-
zügliche Schauspieler entwickelte hier [Rezitation eines Theaterprologes;
Anm. R. C.] sein ganzes Talent; er sprach mit Besonnenheit, Würde, Erhe-
bung und dabei so vollkommen deutlich und präcis, daß in den letzten Win-
keln des Hauses keine Sylbe verloren ging. Die Art, wie er den Jamben be-
handelte, gab uns eine gegründete Hoffnung auf die folgenden Stücke. Und
welche Zufriedenheit wird es uns nicht gewähren, wenn wir unser Theater
von der fast allgemeinen Rhythmophobie, von dieser Reim- und Tactscheue,
an der so viele deutsche Schauspieler krank liegen, bald werden geheilt
sehen!« (Weim. Ausg., I. Abt., Bd. 40, 1901, S. 10; Eröffnung des Weimari-
schen Theaters)
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